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Vielheit

Willem de Rooij, Bouquet IX, 2012, Weiße Keramikvase, Sockel, kugelförmiges Blumenarrangement,
Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne

Vom 18. Juni bis 24. September zeigt Kunst Meran Merano Arte die Ausstellung Vielheit. Geschichten aus der postmigrantischen Gesellschaft – kuratiert von Jörn Schafaff, mit Kunstwerken von Bani Abidi, Sol Calero, Clément Cogitore, Pradip Das, Nicolò Degiorgis, Barbara Gamper, Nadira Husain, Pinar Öğrenci, Willem de Rooij, Ecaterina Stefanescu, Rirkrit Tiravanija, Haegue Yang und Želimir Žilnik.

An vielen Orten Europas, aber auch anderswo in der Welt, ist die gesellschaftliche Realität heutzutage postmigrantisch – geprägt durch das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Menschen mit verschiedenen kulturellen, sozialen, ethnischen und religiösen Hintergründen teilen sich den Alltag. Gleichwohl spiegelt sich diese Vielheit oftmals nicht in den medialen oder politischen Diskursen wider. Dem entgegen lädt die Ausstellung Vielheit dazu ein, die Komplexität postmigrantischer Gesellschaften anhand von persönlichen Erzählungen und allgemeinen Beobachtungen zu erkunden: Wie verändern sich Vorlieben, Gewohnheiten, Wahrnehmungen und Beziehungen in unser zunehmend von Vielheit geprägten Lebenswelt? Wo und wie wird sichtbar, was an Neuem entsteht? Welche Anforderungen leiten sich daraus ab – für einzelne Menschen, für gesellschaftliche Gruppen, für die Gesellschaft insgesamt? Die künstlerischen Beiträge der Ausstellung laden dazu ein, über Vielheit als Möglichkeitsraum, aber auch als Herausforderung nachzudenken.

Südtirol etwa ist das Migrationsziel für Menschen aus anderen Regionen Italiens, aus anderen europäischen Staaten, aus anderen Kontinenten. Sie alle bringen ihre Erfahrungen, ihr Wissen, ihre Ideen, ihre Ästhetiken und Lebensweisen mit. Vor diesem Hintergrund entstand die Arbeit linguistic landscapes (how do we come together in our differences?) (2023) der aus Meran stammenden Künstlerin Barbara Gamper. Anhand eines Fragebogens und eines Workshops erörterte Gamper mit Meraner Schüler*innen Themen wie Zugehörigkeit, Teilhabe, Zukunft und die Wirkungsmacht von Sprache. Das Ergebnis ist ein zweiteiliges Banner, auf dem die Gedanken der Jugendlichen zu einer ‚Word Cloud‘ verdichtet sind. Die neue Installation des thailändischen Künstlers Rirkrit Tiravanijas, untitled 2023 (neighbours) (2023), entstand ebenfalls für die Ausstellung: Auf mehreren Bildschirmen erzählen Menschen verschiedener Herkunft von ihren Anfängen in Meran, ihrem jetzigen Leben und ihren Wünschen für die Zukunft. Die hölzerne Plattform, auf der die Bildschirme stehen, verweist auf Tiravanijas eigene Migrationserfahrung: Sie hat die Maße jenes Zimmers, in dem Tiravanija die erste Zeit lebte, nachdem er als 19jähriger von Thailand zum Studium nach Kanada gekommen war.

Rirkrit Tiravanija, untitled 2023 (neighbours), Courtesy of the artist (Foto: Ivo Corrà)

Auch Želimir Žilniks Kurzfilm Inventur Metzstraße 11 (1975) lässt die Betroffenen selbst zu Wort kommen: Der serbische Filmemacher bat die Bewohner*innen eines Münchner Mietshauses, sich für die Kamera vorzustellen. Es entstand ein nüchterner und dennoch anrührender Einblick in die Lebenssituation der damals so genannten Gastarbeiter im damaligen Westdeutschland – Menschen aus Griechenland etwa, der Türkei und Italien.

Der Rückblick ins 20. Jahrhundert erinnert daran, dass Migration keinesfalls ein neues Thema ist. Historisch gesehen ist Migration nicht unbedingt die Ausnahme; als ungewöhnlich erscheint eher die Sesshaftigkeit. Statt bei Fragen des Zusammenlebens weiterhin zwischen „Etablierten“ und „Neuankömmlingen“ zu unterscheiden, erscheint es deshalb sinnvoller, die Veränderungen der Lebenswelt als gemeinsames Anliegen in den Blick zu nehmen. Vielheit ist dafür ein hilfreicher Begriff. Er bezeichnet eine in sich uneinheitliche große Anzahl von etwas – also eine Mannigfaltigkeit, die trotz der Unterschiede doch zusammen gedacht werden will.

In diesem Sinne verwendet ihn auch der Migrationsforscher Mark Terkessidis in seinen Überlegungen zur postmigrantischen Gesellschaft. Die heutige Gesellschaft ist für ihn „ein Bündel von Unterschieden“, von denen Migration nur ein Faktor neben vielen anderen ist. Einerseits geht es darum, alle diese Unterschiede (Klasse, Gender, sexuelle Orientierung, Bildung, Religion, etc.) stets zusammen zu denken, andererseits darum, Migration als einen dynamischen Prozess zu verstehen, der alle Bereiche der Gesellschaft betrifft. Allgemeiner gesprochen geht es um Pluralität in all ihren Facetten als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Nicht zuletzt zeigt sich Pluralität in den Orten, die postmigrantische Gesellschaften hervorbringen. Nicolò Degiorgis‚ Buch Hidden Islam (2014) zeigt Fotografien muslimischer Gebetsräume in Norditalien. Die Aufnahmen entstanden während einer mehrjährigen Recherche, in der Degiorgis auch die oftmals rassistisch gefärbten öffentlichen Diskussionen über diese neuen postmigrantischen Orte festhielt. Ein Beispiel seiner Recherchen sind die zahlreichen Fotos, Zeitungsartikel und Dokumente von Case Study TV31020 (2009 – 2013), die der in Bozen lebende Künstler für die Ausstellung als Wandinstallation arrangiert hat. In ihrem Video The Song (2022) begleitet die in Pakistan aufgewachsene Künstlerin Bani Abidi einen älteren Mann bei seiner Ankunft in Berlin. Mit aus Haushaltsgegenständen gefertigten Instrumenten versucht er die Stille seiner neuen Wohnung erträglich zu machen, in Erinnerung an die Geräuschkulisse, die er an seinem Herkunftsort, einer Metropole des globalen Südens, gewohnt war. Die in Paris geborene Nadira Husain wiederum schafft mit Gemälden wie An Elephant in Front of the Window, Kulfi (2022) transkulturelle geistige Orte, in denen sich Motive klassischer indischer Malerei und Versatzstücke europäischer Comic-Kultur mit Fragen von Queerness und feministischem Empowerment verbinden.

Ein drittes Thema der Ausstellung ist der Umgang mit Identitätsvorstellungen und kulturellen Stereotypen. Bouquet IX (2012) des niederländischen Künstlers Willem de Rooij ist ein prächtiger Blumenstrauß, deren Blüten ein Kriterium gemein haben: ihre weiße Farbe. Ihrer Form nach sind sie jedoch sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass die meisten der Blumen ursprünglich nicht in Europa beheimatet waren. Die Skulptur kann somit als eine Reflexion über die Spannung zwischen abstrakten Begriffen wie Gleichheit und Differenz und über die soziohistorischen Konnotationen der Farbe Weiß gesehen werden.

Clément Cogitore, Les Indes galantes, 2017, video, 5’26”. Courtesy of the artist, Chantal Crousel Consulting, Paris  and Reinhard Hauff Gallery, Stuttgart.

Sol Caleros Escultura Salsera II (2014) ist eine Skulptur aus Mauersteinen, Sockel und Stoff, die wie eine Salsatänzerin anmutet. In bunten Farben zwischen Abstraktion und Figuration changierend, scheint die Arbeit der in Venezuela aufgewachsenen Künstlerin ein Sinnbild lateinamerikanischer Kultur, fragt aber vor allem danach, was es benötigt, um derartige Zuschreibungen vorzunehmen.

Mit einer Vielheit dokumentaristischer und poetischer Ansätze erkunden die künstlerischen Beiträge der Ausstellung sozialen und kulturellen Wandel jenseits einfacher Konzeptionen von Zugehörigkeit. Im Blickfeld steht dabei nicht zuletzt, was die Migrationsforscherin Regina Römhild „heterotopische Momente von Konvivialität“ genannt hat: jene vielen kleinen Ereignisse gelingenden Miteinanders, die der populistischen Stigmatisierung von Migration und ihren Folgen entgegenstehen.

Programm

Als integraler Bestandteil des Projektes lädt das Vermittlungs- und Veranstaltungsprogramm dazu ein, gemeinsam mit Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Region zu erörtern. Am Eröffnungstag lädt Barbara Gamper zu einer „somatischen Intervention“ ein. Im Anschluss an die Vorführung ihres Films Gurbet Is A Home Now (2021) diskutiert Pinar Öğrenci mit dem Migrationsforscher Erol Yildiz über die Bedeutung von Architektur, Wohnen und Stadtentwicklung in der postmigrantischen Gesellschaft. An insgesamt vier Donnerstagen im Juni und Juli eröffnet Kunst Meran Merano Arte mit „Haircuts With Attitude“ einen fiktiven Friseursalon mit realem Programm in der Meraner Innenstadt. Bei Drinks und Musik schneidet der Künstler Filippo Contatore seinen Gästen die Haare und spricht mit ihnen über Fragen kultureller Identität. Zu Gast sind unter anderem die Migrationsforscherin Claudia Lintner und die Kunstkritikerin und Autorin Rosalyn D’Mello. Teil des Programms ist auch die Vorführung von Manuela Boezios und Federico Scienzas neuem Dokumentarfilm „Heutzutage – 12 Geschichten“ (2023) über das postmigrantische Zusammenleben in Südtirol. Ein Workshop mit Jugendlichen geht der Frage nach, wie ein Miteinander zwischen persönlichen Identitätsvorstellungen und Gruppenzugehörigkeit aussehen könnte. Am letzten Ausstellungswochenende lädt Kunst Meran Merano Arte zu einem Anti-Rassismus-Workshop mit Fouzia Kinyanjui und Ivo Passler von Human Rights Initiatives ein. Zur Finissage findet auch dieses Jahr ein Kunsthaus Clubbing statt: In der Transcultural Sunday Lounge wird DJ Kandeesha mit der Auswahl ihrer „Musica Disorientale“ die Wände des Kunsthauses in Vibration versetzen.

Termin: Eröffnung am 17. Juni um 16.00 Uhr bei Kunst Meran. Bis 24. September.

www.kunstmeranoarte.org

 

 

 

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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