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„Ein zweischneidiges Schwert“

Das vom Vatikan veröffentlichte „Katechumenale Wege für das Eheleben“ hat für Aufsehen gesorgt. Der Moraltheologe Martin M. Lintner spricht im Interview über die Forderung der vorehelichen Enthaltsamkeit.

Tageszeitung: Herr Lintner, in seinem jüngsten Schreiben richtet der Papst den Appell an junge Paare, bis zur Eheschließung in sexueller Enthaltsamkeit zu leben. Warum glauben Sie, hat der Papst in der heutigen Zeit eine solche Aussage getroffen?

Martin M. Lintner: Das Dokument ist vom vatikanischen Amt für Laien, Familie und Leben ausgearbeitet worden, als eine Art Glaubensunterweisung für junge Paare, die sich auf die Ehe vorbereiten. Der Papst hat dazu ein Vorwort geschrieben, worin er deutlich macht, dass es ihm ein Anliegen ist, junge Menschen auf diesem Weg zu begleiten. Bei den beiden Bischofssynoden zu Ehe und Familie 2014 und 2015 hat sich gezeigt, dass vielen Menschen die kirchliche Lehre zur Ehe kaum bekannt ist oder sie sich wenig damit auseinandersetzen, selbst wenn sie kirchlich heiraten möchten. Wenn wir berücksichtigen, dass die Kirche einen großen Wert auf das Sakrament der Ehe und ihrer Unauflöslichkeit legt, hat man die Notwendigkeit erkannt, ein Vorbereitungsprogramm auszuarbeiten, welches der Bedeutung der Eheschließung und deren Konsequenzen gerecht wird.

Diese Veröffentlichung hat für viel Aufsehen gesorgt. Hat der Papst ein Thema „aufgewärmt“, welches eigentlich kaum noch Beachtung findet? 

Es ist ein zweischneidiges Schwert. Die Sexualität ist bei jungen Menschen ein aktuelles Thema und die meisten wollen nicht bis zur Heirat warten. Der Begriff „Keuschheit“ klingt altmodisch. Gemeint ist die Grundhaltung, einen verantwortungsvollen Umgang mit der Sexualität zu finden. Deshalb spricht die Kirche von Keuschheit auch innerhalb der Ehe und meint damit nicht die sexuelle Enthaltsamkeit. Bis zur Eheschließung ermutigt sie jedoch zu sexueller Enthaltsamkeit oder zumindest zu einer Art Stufenleiter der Zärtlichkeit, auch wenn sie sich bewusst ist, dass die Lebenswirklichkeit der jungen Menschen meistens anders ausschaut und sie sich deshalb fragen muss, wie sie junge Menschen in der Gestaltung ihrer Sexualität und ihrer Beziehungen begleiten kann.

Sollte die Keuschheit als Thema von der Kirche im 21. Jahrhundert noch angesprochen werden?

Ja, wenn vielleicht auch mit einer anderen Begrifflichkeit. Wenn wir an den sexuellen Missbrauch innerhalb und außerhalb der Kirche, an Menschenhandel, Prostitution, Pornografie, Rachepornos, sexting usw. denken, stellt sich schon die Frage, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit der Sexualität eingeübt werden kann, sodass Menschen nicht in ihrer Würde und Freiheit verletzt werden. Die Kirche wird in diesem Bereich meist nicht mehr als moralische Autorität akzeptiert, ein Problem, das weitgehend hausgemacht ist. Viele würden sagen, es wäre besser, sie würden zu diesem Thema einfach einmal schweigen. Es aber einfach auszublenden, wäre auch nicht richtig. Ich plädiere dafür, nicht Normen im Sinne von „wer wann mit wem was darf oder nicht darf“ vorzugeben, sondern ethische Kriterien anzubieten, die helfen, diesen Bereich der menschlichen Person und von Beziehungen gut und selbstverantwortet zu gestalten.

Papst Franziskus rechtfertigt seine Ansicht mit der Begründung, dass man vor der Eheschließung das Augenmerk darauf richten soll, die Freundschaft zu vertiefen und Gottes Gnade anzunehmen. Was halten Sie von dieser Argumentation?

In diesem Dokument geht es nicht nur um Sex oder Nicht-Sex. Das Augenmerk wird darauf gerichtet, wie eine Beziehung emotional und menschlich wachsen kann. Die Sexualität ist nur ein Bereich davon, aber nicht alles. Die Vertiefung der Freundschaft, sich kennenlernen, aufeinander eingehen, sich aufeinander einlassen und sich gemeinsam die Frage zu stellen, ob und wie man das Leben gemeinsam gestalten möchte, halte ich für wichtig. Eine kirchliche Heirat ist immer auch eine Art Glaubensbekenntnis, dass eine menschliche Liebesbeziehung etwas von der Liebe Gottes zu uns Menschen widerspiegelt. Das ist mit der Gnade Gottes gemeint, dass in der menschlichen Liebe etwas Himmlisches erfahrbar wird und ein Paar darin eine Hilfe für seine Beziehung findet.

Denken Sie, die Publikation dieses Schreibens war ein unkluger Schachzug des Vatikans? 

Es ist eine Antwort darauf, dass bei der Ehevorbereitung Handlungsbedarf herrscht. Fraglich ist, ob man sich mit der wiederholten Forderung der Enthaltsamkeit vor der Ehe einen Gefallen gemacht hat, da viele anderen Aspekte dieses Textes, die lesens- und bedenkenswert sind, nicht mehr wahrgenommen werden.

Die Katholische Kirche beanstandet immer wieder, dass sich sehr wenig Jugendliche dem Glauben anschließen und von der Kirche abgeneigt sind. Entfernen solche Aussagen die Jugend nicht noch weiter von der Kirche? 

Wenn man es auf die sexuelle Enthaltsamkeit reduziert, werden viele sagen, dass es von ihrer Lebenswirklichkeit oder ihrer eigenen Erfahrung weit entfernt ist. Im Dokument werden aber auch Fragen vertieft, die sich viele Paare bei der Ehevorbereitung durchaus auch selbst stellen.

Papst Franziskus wird eigentlich als relativ modern angesehen. War das jetzt aber ein Schritt zurück? 

Er ist ein Papst, der für die konkreten Menschen offen ist, sensibel für ihre persönlichen Situationen und bemüht, ihnen gerecht zu werden. In den Grundpositionen der Sexualmoral unterscheidet er sich aber kaum von seinen Vorgängern. Seine Aussagen zum Beispiel über homosexuelle Menschen gehen über das hinaus, was Benedikt XVI. oder auch Johannes Paul II. gesagt haben. Dadurch wurden Erwartungen geweckt, die kirchliche Position zur Homosexualität würde sich ändern, was sich aber bislang nicht erfüllt hat.

Wird sich die Anhängerschaft der Kirche wegen diesem Dokument in den nächsten Jahren drastisch reduzieren?

Nein, davon gehe ich nicht aus. Diejenigen, die sich mit dem Dokument im Hinblick auf die Ehevorbereitung befassen, werden darin vieles finden, was für sie hilfreich und ermutigend ist. Jene, die nur diese eine Schlagzeile „Kein Sex vor der Ehe“ wahrnehmen, werden sich in ihrer Position bestätigt fühlen, dass der Vatikan veraltete Anschauungen hat.

Interview: Samuel Fink

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (11)

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  • segadigon

    sollen doch die pàpste verzichten und von den buben lassen — was leider immer noch passiert

  • roger

    Wow, anstatt die Religion der Zeit anzupassen, pocht er auf dumme, mitelalterliche Meinungen! Aber kleine Jungs darf man schon lediger vernaschen. Die Existenzberechtigung des Vatikans ist spätestens seit der Inquisition nicht mehr gegeben!!!

    • pingoballino1955

      roger……. verkrusteter,mittelalterlicher nicht mehr zeitgemässer Aparat.Und die Missbräuche werden immer noch nicht aufgeklärt,sondern weiterhin VERTUSCHT!Und das soll die heutige katholische Kirche sein? NEIN DANKE!

  • gerhard

    Das kommt davon wenn man in einer Sekte ausschließlich altersschwache, verbitterte, weltfremde und machtbesessene alte Männer als Führungskräfte hat.
    Dieses Volk von lebensunfähigen, der Welt entrückten, Greisen glaubt immer noch, es könne den Menschen Vorschriften machen, wie Sie Ihr Leben zu gestalten haben.
    Das Traurige daran ist, das die vielen menschenfreundlichen Priester, Ordensfrauen und dem Glauben verpflichteten Menschen mit ansehen müssen, wie Ihre Kirche verkommt und dem Untergang geweiht ist.
    Sie müssen ertragen, wie diese alterschwachen, bitterbösen Menschen Ihre Glaubensbrüder decken, die Kinder mißbraucht haben, ihnen die Seele gestohlen haben.
    Schande-Papst Benedikt 16 hat an Sitzungen teilgenommen, an denen über die schmutzigen Mißbräuche von Priestern gesprochen wurde.
    Es wurde nichts unternommen, um diese minderwertigen Kreaturen daran zu hindern, Ihre Grausamkeiten zu wiederholen. Das leugnet dieser Unmensch.
    Unglaublich .
    „KIRCHE FIRST“ genau so krank und verkommen wie die Forderung von Trump.
    Dieses verlogene, menschenverachtende Papst aus Deutschland ist eine abgrundtiefe Schande für die Kirche.
    Nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung gehört in Deutschland heute noch einer der beiden großen Kirchen an.
    Pingoballino sagte gestern zu einem anderen Bericht sinngemäß, die brauchten sich nicht wundern, wenn immer weniger Menschen in Ihren „Laden“ kämen.
    Fürwahr!

  • gerhard

    wollte und dieser Papst uns sagen:
    Kein Sex vor der Ehe – Der Sex mit unverheirateten jungen Menschen ist der Kirche vorbehalten ?

  • fliege

    Genau aufgrund von solchen Aussagen verzichte ich……. Auf die Kirche

  • brutus

    Ich finde Sex vor der Ehe in Ordnung, wenn man rechtzeitig zur Trauung kommt!

  • morgenstern

    Der Verein hat es hinter sich.

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