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„Solidarität nimmt ab“ 

Arbeitskräftemangel, Inflation und KI: AGB/CGIL-Gewerkschafter Josef Lazzeri spricht im Interview über eine neue Art des Lohn-Kampfes in der Arbeitswelt. 

Tageszeitung: Herr Lazzeri, die Arbeitswelt seit Corona verändert wie zuvor in Jahrzehnten nicht mehr. Stichworte: Arbeitskräftemangel, Inflation und technologische Revolution. Wie geht es den Lohnabhängigen in Südtirol angesichts dieser Transformationen?

Josef Lazzeri: Es ist natürlich zu unterscheiden, von welchen Arbeitnehmern wir sprechen. Es ist klar, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem fortgeschrittenen Alter sich hier schwerer tun als die sogenannten Digital Natives, die wesentlich besser speziell mit dem technologischen Wandel umgehen. Der demografische Wandel wirkt sich auch massiv auf die Arbeitswelt aus und ist aus meiner Sicht eine tickende Zeitbombe.

Inwiefern?

Die Baby-Boomer-Generation geht in großem Ausmaß in Pension, wodurch sich auf dem Arbeitsmarkt auch angesichts einer seit Jahren auch in Südtirol sinkenden Geburtenrate ein riesiges Loch auftut. Fachkräfte, aber auch nicht oder gering ausgebildete Menschen werden dem Arbeitsmarkt fehlen. Diese Entwicklung wurde durch Corona beschleunigt.

Dies alles müsste die Verhandlungsposition der Gewerkschaften bei den Lohnverhandlungen eigentlich stärken. Doch die Löhne steigen kaum und wurden zuletzt von der galoppierenden Inflation buchstäblich aufgefressen. Was haben die Gewerkschaften hier falsch gemacht?

Unsere Verhandlungsposition ist stärker geworden und speziell in Südtirol können vier Gewerkschaftsbünde mit viel Gewicht Lohnverhandlungen einfordern. Das Problem ist der Faktor Zeit und es gibt unterschiedliche Situationen in den einzelnen Sektoren. In der Industrie sind wir beispielsweise besser organisiert, im Handel und Tourismus, wo vielfach saisonal gearbeitet wird, weniger.

Warum werden in Deutschland und Österreich Lohnerhöhungen von bis zu über zehn Prozent erzielt, in Italien hingegen gibt es solche mit höchstens drei Prozent?

Da gibt es in Italien einen verhandlungstechnischen Hemmschuh, dass die Verträge nämlich über den nationalen Inflationsindex IPCA abgeschlossen werden. Dort sind einige Parameter wie die Energiepreise, die für die aktuelle Inflationskrise verantwortlich sind, nicht enthalten. Die Löhne und Gehälter hinken deshalb nach, speziell in einer kleinen Provinz wie Südtirol, wo die Inflation und die Lebenshaltungskosten höher sind als anderswo. Viele Menschen, die im Monat zwischen 1.400 und 1.600 Euro verdienen, kommen so nicht mehr ans Monatsende. Sie haben kein Auskommen mit ihrem Lohn.

Wo setzt Ihre Gewerkschaft an, um dies zu ändern?

Auf nationaler Ebene haben wir ein Referendum gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen der lohnabhängigen Bevölkerung gestartet. Dort fordern wir die Abschaffung der prekären Arbeitsverhältnisse, die in 20 Jahren liberaler Wirtschaftspolitik überhand genommen haben und zu wesentlich geringeren Löhnen geführt haben. In Südtirol haben wir zwar eine Arbeitslosenquote unter drei Prozent, dabei aber nicht ausgedrückt sind die tatsächlich gearbeiteten Stunden pro Arbeitsvertrag. Es gibt Menschen, die sind in einem Betrieb für wenige Stunden die Woche beschäftigt und brauchen möglicherweise zwei weitere solcher Arbeitsverhältnisse, um auf einen halbwegs angemessenen Lohn zu kommen. Geringer Lohn bedeutet immer auch eine geringe Rente. Damit züchten wir uns eine neue Altersarmut heran, nachdem ja jetzt überall die beitragsbezogene Rente gilt.

Wie sieht es derzeit mit den vielbeschworenen Zusatzverträgen auf Landesebene aus, deren rechtliche Verankerung die Gewerkschaften seit Jahren fordern?

Sie sind Teil des Regierungsprogramms der neuen Landesregierung und es wird demnächst Treffen mit den Unternehmerverbänden geben. Ziel ist eine IRAP-Reduzierung als Anreiz für Zusatzverträge, aber auch die Bindung der Zahlung von Landesbeiträgen an dieses Kriterium. Wir möchten auch, dass dieses auch für Ausschreibungen gilt und generell als Garant für gute Arbeitsbedingungen und Vereinbarkeit von Arbeit und Familie.

Laut einer aktuellen Studie des Arbeitsförderungsinstituts AFI ist die Höhe des Lohnes weiterhin der wichtigste Faktor für einen Arbeitnehmer, die Familie ist erst einmal zweitrangig. 

Das ist uns bekannt und fällt teilweise in den Themenbereich der prekären Arbeitsverhältnisse hinein. Die Folgen der Inflation wirken sich auf einen geringen Lohn noch stärker aus als einen höheren und wer mit einem Zeitvertrag bei einer Bank um einen Konsumkredit anfragt, wird eine Absage erhalten. Wenn jemand nicht genug Einkommen hat, nützt ihm die ganze Freizeit nichts.

Wie verändern technologische Entwicklungen wie Künstliche Intelligenz die Arbeitswelt?

Wir beobachten das, haben bisher aber keine spezifischen Entwicklungen festgestellt. Man kann davon ausgehen, dass die Unternehmen in dieser Hinsicht sehr wohl umschauen werden. Wenn ein Betrieb sparen kann, dann macht er das zuerst beim Personal. Wir sind darauf bedacht, dass die Menschen bei diesem Prozess mitgenommen werden. Also Fortbildung und Schulungen. Es wird hier Umschichtungen geben, es muss nicht unbedingt krasse Auswirkungen geben.

Wie erleben Sie als linker Gewerkschafter die verstärkte Tendenz, dass Lohnabhängige bei Wahlen immer häufiger rechte Parteien wie Fratelli d`Italia wählen? 

Wir vertreten die Arbeiterinnen und die Arbeiter nicht nach Parteikarteln und fragen auch nicht danach, wir sind parteiunabhängig. Wer mit uns zu tun hat, merkt, dass unsere gewerkschaftspolitische Ausrichtung links ist. In unserem Statut steht, dass, wer für eine extrem rechte Partei kandidiert, bei uns nichts verloren hat.

Stellen Sie angesichts des Fachkräftemangels eine verstärkte Entsolidarisierung zwischen den Arbeitnehmern fest? Wenn viele von ihnen etwa abgeworben werden und ihren Lohn mit dem Arbeitgeber aushandeln können, hängen sie ihre Kollegen im Betrieb damit ab. Die Höhe des Lohnes wird zur Privatangelegenheit. 

Ja, diese Entwicklung findet statt und wir sehen sie sehr kritisch. Wir vertreten die Schwachen, die Arbeitnehmer als Kategorie, die nicht eigenständig Lohnverhandlungen führen können, etwa weil sie keine teure Ausbildung finanzieren konnten. Die Solidarität nimmt ab, es findet eine Entsolidarisierung statt. Ein Prozess, der sich in der Gesellschaft insgesamt abspielt, der Zusammenhalt wird immer schwächer. Laut Angaben der Arbeitgeberverbände gibt es kaum mehr gut ausgebildete Einheimische, die nicht über dem Tariflohn bezahlt werden. Aber für Menschen mit geringer Qualifizierung, speziell aus dem Ausland stammende Arbeitskräfte, gilt das nicht. Wir als Gewerkschaft müssen aber auf alle schauen.

Es gibt in der Arbeitswelt also ein Zwei-Kategorien-System?

Ja, das gibt es, jeweils abhängig von der Branche. Die Tarifverhandlungen sind aber die Basis für alle Lohnverhandlungen, sie sind die Voraussetzung dafür, um festzustellen, ob jemand viel oder wenig bekommt. Etwa zu den 150 Euro Lohnerhöhung, welche die Gewerkschaften fordern, müssen wir leider auf den Abschluss der nationalen Tarifverträge warten. Dasselbe gilt für die Zusatzverträge ausarbeiten, die wir nach den neuen Rahmenbedingungen des Landes aushandeln wollen.

Wie sehen Sie die Zukunft der lohnabhängigen Arbeit, in welche Richtung geht sie?

Wenn sie ihn Südtirol derzeit auch eine gute Verhandlungsposition hat, müssen wir immer auch die geopolitische Lage im Auge behalten. Wir haben gesehen, welche wirtschaftspolitischen Auswirkungen der Ukrainekrieg auch für uns hatte. Wir leben in unruhigen Zeiten, es bleibt spannend.

Interview: Thomas Vikoler

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (3)

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  • unglaublich

    Natürlich gibt es für diese Lohnkatastrophe Schuldige.
    1. Die Arbeitnehmer selber, die zu dumm, zu faul gewesen sind sich zu wehren.
    2. Ihre Vertreter, die Gewerkschaften, die geschlafen haben, keine Ahnung wieso.
    Man hat geschlafen und erkämpften Rechte verspielt, die Rechnung dafür ist fürchterlich.
    Da bewahrheitete sich der Spruch von Brecht: „Wer kämft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren“

  • perikles

    Die Südtiroler Arbeitnehmer sind Opportunisten..wenns zum Streik kommt, sollen das die Arbeiter südlich von Salurn tun; damit braucht man einerseits keine streikbedingten Lohnreduzierungen hinnehmen und profitiert dennoch, sofern die Streiks was bringen; profitieren tut natürlich auch der Südtiroler Unternehmer: für die gleiche Arbeit in Österreich/Deutschland müsste er mindestens 30% mehr bezahlen.

  • tirolersepp

    Das Problem löst sich von selbst !!

    Auftragsbücher voll keine Arbeiter, also muss ein hoeherer Lohn bezahlt werden!!!

    Jeder Arbeitnehmer wird umworben bzw. abgeworben!

    Schlechten Lohn kann sich kein Arbeitgeber leisten – sehr gut sooo !!!

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