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„Verwundert mich sehr“

Eine Innsbrucker Studie kommt zum Schluss, dass Long Covid-Erkrankte nach zwei Jahren geheilt sein sollen. Der wissenschaftliche Leiter der Neurorehabilitation in Sterzing, Leopold Saltuari, widerspricht dem entschieden.

von Christian Frank

Beinahe revolutionäre Töne schlug eine Studie der Medizinischen Universität Innsbruck an, als sie von ihren Erkenntnissen in der Fachzeitschrift „Gastroenterology“ berichtete. Unter der Leitung des Direktors für Innere Medizin I, Herbert Tilg, wurden 21 Patienten mit einem chronisch entzündlichen Darm und leichten bis mittleren Long Covid-Symptomen für den gesamten Krankheitszeitraum beobachtet. Die Konklusion der Studie: Alle 21 Patienten wiesen nach zwei Jahren eine 100-prozentige Heilung ihrer Long Covid-Leiden auf. Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung ist die Korrelation zwischen Virusrückständen im Körper der Betroffenen und den Long Covid-Symptomen. Sobald die Virusrückstände aus dem Immunsystem verschwinden, so die Studie, sollen auch die Begleiterscheinungen des Long Covid ihr Ende finden. Hierbei ist die Rede von Beschwerden wie Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Die Studienurheber sprechen von einem noch nie dagewesenen Unterfangen und sehen die Zweijahresmarke als Rekonvaleszenzzeit für Long Covid an.

„Das ist aus der Hüfte geschossen“, protestiert Leopold Saltuari. Er ist der wissenschaftliche Leiter der Neurorehabilitation in Sterzing und befasst sich eingehend mit Patienten, die unter Long Covid leiden.

„Ich bin über diese Studie erstaunt. Ich habe durchaus Patienten gesehen, wo die Symptome wesentlich länger angedauert haben. Diese Aussage entspricht nicht meinen klinischen Erfahrungen“, so Saltuari. In einer von ihm durchgeführten Studie konnten Long Covid-Beschwerden mit neurologischen Problemen in Zusammenhang gesetzt werden, welche auf das Covid-19-Virus zurückgeführt werden konnten. Die Symptome werden terminologisch unter dem Begriff „Fatigue-Syndrom“ zusammengefasst und beinhalten unter anderem eben jene Aufkommen von Antriebslosigkeit, Müdigkeit und Erschöpfung.

„Wir konnten nachweisen, dass das zentrale Nervensystem von Long Covid betroffen ist und dies ist auch noch nach zwei Jahren der Fall. Ich habe Patienten, welche über einen längeren Zeitraum das Fatigue-Syndrom haben“, resümiert Saltuari und gibt zu bedenken, dass eine so pauschale Aussage in Anbetracht des kurzen Zeitraums von Long Covid-Untersuchungen fragwürdig sei, „Es ist keine drei Jahre her, dass man sich mit Long Covid befasst. Zu so einem Schluss zu kommen, ist verfrüht.“

Laut dem wissenschaftlichen Leiter können bereits die Akutfolgen, wie Anosmie und Hyposmie, also Geruchs- und Geschmacksstörungen, länger als zwei Jahre andauern.

Zu diesem momentanen Zeitpunkt Heilungsdauern für Long Covid zu postulieren, sieht Saltuari als ein schwieriges Unterfangen: „Man kann keine Prognosen anstellen, wie lange sich Long Covid halten wird. Wir haben durch Covid-19 unsere ersten Erfahrungen damit gemacht. Damals konnte man sich nicht einmal ausmalen, welche komplexen neurologischen Folgen dieses Virus mit sich ziehen kann.“

Wenn der Blick nach vorne nicht gewiss ist, lohnt sich oft ein Augenschweif zurück. In diesem Sinne rekapituliert Saltuari Beobachtungen, welche man im Zuge der Spanischen Grippe machte: „Wir wissen, dass bei der Spanischen Grippe Menschen, welche dabei an Enzephalitis erkrankten, etliche Jahre später schwere Parkinsonerkrankungen entwickelten.“

Auch die Heilung von Long Covid in einem kausalen Zusammenhang mit Virusrückständen im Körper zu setzen, kritisiert Saltuari: „Ich kann mir durchaus vorstellen, dass jemand, der keine Long Covid-Symptome mehr hat, bei nachträglichen Untersuchungen keine Virusrückstände mehr vorweist. Aber zu postulieren, dass diese Virusrückstände primär die verantwortlichen Faktoren für Long Covid sind, ist diskutabel. Es spielen noch eine Reihe anderer Prozesse eine Rolle dabei.“

Der gemeinsame Nenner, auf dem sich Saltuari mit der Studie findet, ist, dass Long Covid durchaus heilbar ist.

„Prinzipiell ist Long Covid heilbar. Das Hirn ist plastisch, es reorganisiert sich und kann sehr gut ausheilen. Wie viele andere Organe hat das Hirn sehr gute Reaktionsmöglichkeiten“, konstatiert der wissenschaftliche Leiter.

In der Neurorehabilitation werde dafür vor allem mit neuropsychologischem Training gearbeitet, welches die Aufmerksamkeit und Gedächtnisfähigkeit stärken soll. Zudem habe auch ein Nahrungsergänzungsmittel für AMS entzündungshemmende Wirkungen gezeigt und bei einigen Patienten eine positive Wirkung gegen die Long Covid-Leiden mit sich gebracht.

Dem wissenschaftlichen Leiter der Neurorehabilitation bleibt nur noch übrig, sich über die Innsbrucker Studie zu wundern, welche so entschieden seinen eigenen klinischen Erfahrungen im Umgang mit Long Covid-Patienten widerspricht. Er mahnt zur Vorsicht mit voreiligen Schlüssen und betont die Notwendigkeit, die Entwicklung weiter zu beobachten.

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