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Wie schädlich sind Pornos?

Lilli Gruber im Studio von LA7: Ich bin nicht gegen Pornographie. Ich bin für Fairness, Transparenz und Qualität in allen Bereichen. Auch bei Pornos. (Foto: Stefano Colarieti)

12 Jahre jung sind im Durchschnitt Kinder, wenn sie das erste Mal Sexfilme im Internet anschauen. Die Journalistin Lilli Gruber hat darüber ihr neues Buch geschrieben. „Non farti fottere“ ( zu Deutsch etwa: Lass dich nicht verarschen!) warnt vor den Gefahren des frühen Pornokonsums.

 Tageszeitung: Frau Gruber, Ihr neues Buch „Non farti fottere“ ( zu Deutsch etwa: Lass dich nicht verarschen!) warnt vor den Gefahren des frühen Pornokonsums bei Jugendlichen. Was bringt eine Politjournalistin dazu, sich mit diesem Thema zu befassen?

 Lilli Gruber: Ich habe mich in mehreren meiner Bücher, insbesondere in „Streghe“ und in „Basta!“ mit der Situation der Frauen beschäftigt. Mit diesem Buch setze ich den Diskurs fort und weite ihn auf die aktuelle erzieherische Problemsituation aus: die Veränderung der sexuellen Vorstellungswelt in Richtung Pornographie.Welche Vorstellung von weiblicher Lust kann ein Junge haben, der mit Bildern von Gangbangs, doppelter und dreifacher Analpenetration und Gesichtsejakulation aufwächst? Dieses Universum und auch diesen riesigen Markt mit seinen enormen kulturellen und wirtschaftlichen Auswirkungen wollte ich erforschen.

Ich nehme an, dass Sie für Ihre Recherche jede Menge pornographisches Material anschauen mussten. Wie ist es Ihnen dabei ergangen?

 Man muss kein Drogensüchtiger sein, um einen Aufsatz über den Kokainhandel zu schreiben, und glücklicherweise muss man auch kein Pornosüchtiger werden, um die Welt der Hardcore-Pornographie zu erkunden. Ich habe die wichtigsten Aggregatoren und die von ihnen angebotenen Videos studiert – und fand sie meist uninteressant – und ich habe viele Studien und Aufsätze zu diesem Thema gelesen. Vor allem im Ausland: Dort wird mehr über diese Themen gesprochen als in Italien. Ich hoffe, dass sich das auch dank dieses Buches ändern wird.

 Die sexuelle Befreiung scheint in einem Ozean von Pornographie aufgegangen zu sein. Tut das Ihrem feministischen Herz weh?

 Ich frage mich, ob die jahrzehntelangen Kämpfe um die sexuelle Befreiung uns wirklich zu dieser Scheinfreiheit geführt haben. Wir Frauen sind frei zu tun, was der Markt will: uns auszuziehen und zur Verfügung zu stehen. Bei anderen Freiheiten, von der Abtreibung über die gleiche Bezahlung bis hin zur Frauenarbeit, liegen wir weit zurück und laufen ständig Gefahr, an Boden zu verlieren. Die Form der „sexuellen Befreiung“, die Pornos vorschlagen, erscheint mir nicht nur als Abzocke, sondern auch als Ablenkungsmanöver von dem, was wirklich wichtig ist.

 Porno ist ein schambehaftetes Tabu, weil niemand zugeben will, Sexfilme im Internet anzuschauen. Dabei steht Italien im weltweiten Pornokonsum an achter Stelle. Sind wir ein Porno süchtiges Land? 

 Wir sind sicherlich starke Konsumenten. Aber Vorsicht: Daran ist nichts falsch. Was falsch ist, ist genau das Tabu, das Schweigen, das diese Welt umgibt. Wenn es sich um eine Form des kulturellen Konsums wie andere Angebote handelt, sollten wir uns Sorgen über den unlauteren Wettbewerb machen, denn das auf Kostenlosigkeit und Piraterie basierende Geschäftsmodell macht Pornos zu einem sehr unlauteren Konkurrenten für andere Unterhaltungsplattformen. Wenn es sich hingegen um einen „riskanten“ Konsum handelt, sollten wir darüber sprechen und geeignete Maßnahmen zum Schutz der jungen und schwachen Menschen ergreifen.

Elf Jahre, vielleicht zwölf. So alt, oder so jung, sind im Durchschnitt Kinder, wenn sie das erste Mal Sexfilme im Internet anschauen. Aber weiß man denn wirklich, was im Innern von Zwölfjährigen passiert, die zum ersten Mal auf Youporn stoßen?

 Die Auswirkungen des frühen und massiven Konsums von Pornographie auf das Gehirn, die Vorstellungskraft und das Verhalten von Jugendlichen sollten viel gründlicher untersucht werden. Einige Phänomene sind jedoch offensichtlich. So ist zum Beispiel eine starke Zunahme von Genitaloperationen zu beobachten. Immer mehr Mädchen rasieren sich die Vagina komplett, halten sie für unförmig – vielleicht mit etwas mehr Schamlippen – und lassen sie sich neu machen. Das sind heikle Eingriffe, die auch schwere Schäden verursachen können. Diese Verzerrung der Wahrnehmung des eigenen Körpers kommt zweifellos von den Pornos her: Wo sonst sollten sie „Modelle“ mit rasierten Vaginas sehen?

 Haarlose Einheitsvulvas, superlange Penisse, Männer, die immer können, Frauen, die immer wollen – das sind die Pornoklischees. Aber viele Sexualforscher sind überzeugt, dass Jugendliche Porno und Realität sehr wohl unterscheiden können.

 Laut einer kürzlich von der Abteilung für Drogenbekämpfung des Ministerrats in Auftrag gegebenen Umfrage, bei der 8700 Schüler im Alter von 11 bis 17 Jahren befragt wurden, sind fast 12  Prozent der Jugendlichen, vor allem die männlichen, von Videospielsucht bedroht und 2,5  Prozent nutzen zwanghaft soziale Netzwerke. Und das sind nur die schwerwiegenden Fälle. Im Allgemeinen ist die Realität für die Generation der Digital Natives immer noch „onlife“, eine Mischung aus „online“ und „life“, dem echten Leben. Liebschaften werden online geboren, erblühen und sterben, Menschen stellen ihr tägliches Leben in sozialen Netzwerken zur Schau und begehen sogar Selbstmord aufgrund von virtuellen Angriffen durch Hasser. Wie plausibel ist es vor diesem Hintergrund, dass junge Menschen gerade in Bezug auf Porno und Sexualität ihr digitales Leben von ihrem realen Leben trennen können? Vergessen wir nicht, dass in Pornos der Realitätseffekt dadurch verstärkt wird, dass die Protagonisten tatsächlich Sex haben.

 Ältere Generationen beschwören eine angeblich sexuell verwahrloste Jugend, die immer früher die Bilder der Pornoindustrie nachspielt. Wissenschaftliche Studien legen aber nahe, dass Jugendliche keineswegs so naiv sind zu glauben, was ihnen die Porno-Industrie weismachen will. Also kein Grund zu Alarmismus und puritanischer Hysterie, oder?

 In dem Buch zitiere ich mehrere wissenschaftliche Studien. Die objektive Tatsache ist, dass junge Menschen pornographische Seiten anklicken, um eine Vorstellung von Sex zu bekommen. Wie sollte es auch anders sein: Internetpornographie ist eine sofort zugängliche und kostenlose Quelle. Laut einer Studie geben 79 Prozent der Befragten an, dass sie auf Hardcore-Seiten gelernt haben, wie man Sex hat, und 27  Prozent glauben, dass Pornos eine genaue Vorstellung davon vermitteln, wie Sex zu sein hat. Einer anderen Studie zufolge glauben 21 Prozent der Befragten, dass die meisten Menschen beim Sex gerne geschlagen werden. Dies sind die Zahlen, und man könnte noch weiter gehen. Der Vorwurf des Moralismus und des Puritanismus ist eine der Waffen, die die Pornoindustrie einsetzt, um diejenigen anzugreifen, die das Thema zur Sprache bringen: Natürlich wollen sie nicht, dass darüber gesprochen wird.

 Was macht Sie so sicher, dass Pornographie die reale Sexualität beschädigen kann? 

 Pornographie an sich schadet nicht, viele Paare und Singles nutzen sie, um ihr Sexualleben aufzupeppen, sei es real oder in ihrer Vorstellung. Daran ist überhaupt nichts auszusetzen. Aber der zwanghafte Konsum kostenloser Online-Pornographie von klein auf – kurze Videos, die ohne besonderen Einfallsreichtum oder Sorgfalt gedreht wurden und oft gewalttätig sind – verbessert sicherlich nicht unseren Einfallsreichtum oder lässt uns neue Wege des Eros entdecken. Sie ist Teil einer Tendenz zur Standardisierung und Trivialisierung, die dazu führt, dass wir alle das Gleiche tun, ohne zu wissen warum. Da es sich hier um den intimsten Bereich unseres Privat- und Beziehungslebens handelt, scheint es mir sehr schade zu sein, auf eine spielerische, kreative und begehrende Dimension zu Gunsten von Gangbangs zu verzichten.

 Sie zitieren auch einige Gewaltepisoden aus der jüngeren Vergangenheit, die angeblich vom Pornokonsum der Täter herrührten. Doch wie repräsentativ sind solche Vorfälle. Ist Pornographie tatsächlich die Theorie und sexuelle Verwahrlosung bis hin zur Vergewaltigung die Praxis wie bereits Alice Schwarzer behauptete?

 Wenn man nur das einzelne Phänomen betrachtet, wird man immer in der Dimension des Notfalls bleiben. Der übliche Kreislauf: Nachrichtenfall, kollektive Empörung, Vergessen, nächster Notfall. In dem Buch versuche ich, diese und andere Nachrichten, Daten, Studien und die Stimmen, der von mir befragten Fachleute zu systematisieren, um ein wenig über den Tellerrand hinauszuschauen und über auf Slogans reduzierte Theorien hinauszugehen. Wir müssen das Gesamtbild betrachten. Es gibt einen fortlaufenden Prozess der Entwertung einer so wichtigen Erfahrung wie Sex, einen Prozess, der sich negativ auf die Vorstellungskraft ganzer Generationen auswirkt: Das ist die Situation. Viele finden es bequemer, es nicht zu sehen, denn es ist kein schmeichelhaftes Bild unserer Gesellschaft und unserer Institutionen.

 Kinder und Jugendliche sollten die Finger von Pornographie lassen, solange sie nicht eigene sexuelle Erfahrungen gemacht haben, heißt es. Ein komplett weltfremder Vorschlag, denn Umgang mit Pornographie sollte zur sexuellen Sozialisation im 21. Jahrhundert gehören, oder? 

 Natürlich: Man kann und darf junge Menschen nicht von der Pornographie fernhalten. Gerade deshalb müssen wir ihnen erklären, wie sie funktioniert, damit sie sich gegen ihre Tücken wehren können, so wie wir es zum Beispiel beim Alkohol tun.

 Politisch gibt es offenbar wenig Bereitschaft, sich mit dem Thema zu befassen. 2023 führte die Diskussion über einen von der 5-Sterne-Bewegung eingebrachten Antrag zur Sexualerziehung in den Schulen zu einer Schlägerei im Plenum. Ein Abgeordneter der Lega warf der Opposition vor, sie wolle „Kindern ihren Dreck aufzwingen“. Ist es Aufgabe der Schule, den Jugendlichen Pornographie-Kompetenz beizubringen? 

 Eine solche Aufgabe kann nicht allein den Schulen anvertraut werden, ebenso wenig wie den Familien, die derzeit damit völlig allein gelassen werden. Sexual- und Gefühlserziehung sollte meiner Meinung nach in unsere ministeriellen Programme aufgenommen werden. Das ist weder ein unanständiger Vorschlag noch eine obszöne Provokation und schon gar nicht das trojanische Pferd einer angeblichen „Gender-Ideologie“, das Schreckgespenst der Rechten. Sexualerziehung ist in der großen Mehrheit der europäischen Länder Realität. Es gibt keinen Grund, warum wir sie nicht auch in Italien praktizieren sollten.

 Die deutsche Vorzeigefeministin Alice Schwarzer ist Ende der 1980er Jahre mit ihrer PorNO-Kampagne krachend gescheitert. Eigentlich sollten Sie gewarnt sein: Gegen Pornographie ist kein Kraut gewachsen. 

 Dann kann ich mich beruhigt zurücklehnen: Mein Buch ist keine Kampagne gegen Pornographie. Ich bin nicht gegen Pornographie. Ich bin für Fairness, Transparenz und Qualität in allen Bereichen. Auch bei Pornos.

 Interview: Heinrich Schwazer

 

Zur Person

Dietlinde „Lilli“ Gruber (* 19. April 1957 in Bozen) ist eine aus einer Südtiroler Familie stammende Journalistin, Moderatorin, Politikerin und Schriftstellerin. Ab 1991 war sie Moderatorin der Hauptnachrichtensendung tg1 des italienischen Staatsfernsehens RAIUno, war aber auch als Journalistin in ausländischen Krisengebieten tätig. Nachdem sie die Regierung Berlusconi dafür kritisierte, die Pressefreiheit immer weiter einzuschränken, verließ sie das Fernsehen, um für die Europawahlen 2004 zu kandidieren. 2008 übernahm sie die Moderation der Talkshow Otto e mezzo auf dem italienischen Privatsender LA7. Sie hat mehrere Bücher geschrieben, unter anderem auch über die Kriegs- und Nachkriegsjahre ihrer Südtiroler Familie.

 

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