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„Ein Wahnsinn“

Der 95jährige Herbert Blomstedt, das kapellmeisterliche Jahrhundertgedächtnis, dirigiert das Gustav Mahler Jugendorchester (Foto: Tiberio Sorvillo)

Was vermag Musik in dunklen Zeiten?  Das Bolzano Festival Bozen positioniert sich gegen einen Boykott russischer Musiker und stellt einen Sommer voll großartiger Musik vor.

Es tobt ein Krieg in Europa. Und ein Kulturkrieg, dessen Hauptschauplatz die Musik ist. Kein Ton, keine Programmzeile scheint mehr unschuldig zu sein, seit Russland die Ukraine mit einem verheerenden Krieg überzieht. Eine nie für möglich gehaltene Cancel Culture setzt alles Russische vom Bolschoi-Ballett über Musiker, Orchester bis zu Dostojewski auf den Index. Sogar einer der bedeutendsten Pianisten der Gegenwart wie der von den Boznern verehrte Grigori Sokolow, der sich nichts zu Schulden hat kommen lassen, außer dass er einen russischen Pass hat, wird vom Boykott bedroht.

Für den künstlerischen Leiter des Bolzano Festival Bozen Peter Paul Kainrath ist das „ein Wahnsinn“. Dass die niedergebombte Ukraine ein Totalverbot russischer Kunst und Musik erlassen hat – verständlich, aber „wir hier haben die Pflicht, die verbindende Kraft der Musik zu stärken.“

Was vermag Musik in dunklen Zeiten?  Diese Frage steht für Veranstalter und für jeden einzelnen Konzertbesucher unvermeidlich im Raum. Kann man sich so einfach in die Sphäre der Ästhetik zurücklehnen, während Krieg herrscht? Die eh schon strapazierte Phrase, dass Musik alle Grenzen überwinde, klingt einigermaßen hohl in diesen Tagen, aber eine andere Option gibt es schlicht nicht. „Wir veranstalten nicht nur schöne Konzerte, wir vermitteln Werte“ sagt Kainrath. Als das internationalste unter Südtirols Kulturprojekten tritt es dezidiert gegen jegliche Aggression, Propaganda und Instrumentalisierung kultureller Botschaften ein, aber ebenso dezidiert steht es für den maximalen Schutz junger Talente jeglicher Nationalität ein.

Das Programm

Ungeachtet aller Verwerfungen steckt das diesjährige Programm voller Leckerbissen. Ein Ereignis der Sonderklasse ist der Auftritt des 95jährigen Dirigent Herbert Blomstedt, der mit dem Gustav Mahler Jugendorchester  Sinfonien von Anton Bruckner, Franz Schubert und Jean Sibelius aufführt. Blomstedt sich den uneingeschränkten Respekt der musikalischen Welt erworben und kann mit Fug und Recht als kapellmeisterliches Jahrhundertgedächtnis bezeichnet werden.

Bolzano Festival Bozen beginnt mit einer beliebten Tradition; dem Open Air Konzert des Haydn Orchesters im Semirurali Park. In dieser stimmungsvollen, ungezwungenen Atmosphäre dirigiert Beatrice Venezi ein Programm, das populäre Lieder in Orchesterarrangements von Armando Franceschini mit Mozarts Sinfonie Nr. 39 in Es-Dur verbindet.

 

European Union Youth Orchestra 

Im Mittelpunkt der Arbeit von European Union Youth Orchestra und Gustav Mahler Jugendorchester steht das sinfonische Repertoire des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Nach zwei Jahren, in denen die Pandemie den Klangkörpern personelle Obergrenzen diktierte, ist es nun wieder so weit, unter der Leitung großer Dirigenten und herausragender Solisten werden die „Auserwählten“ des europäischen Orchesternachwuchses an wahre Meilensteine der sinfonischen Literatur herangeführt. So ist beim EUYO etwa Strawinskys Sacre du Printemps, Strauss‘ Rosenkavalier Suite und Ravels La valse zu hören. Im ersten Programm unter der Leitung von Gustavo Gimeno ist der französische Starviolinist Renaud Capuçon mit Werken von Chausson und Saint-Saëns als Solist zu Gast, im zweiten Programm freuen wir uns besonders auf den amtierenden Busoni Preisträger Jae Hong Park, der Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini interpretieren wird. An diesem Abend unter der Leitung von Gianandrea Noseda wird das Orchester überdies mit Nexus eine Auftragskomposition von Hannah Kendall zur Uraufführung bringen.

30 Jahre Antiqua

Antiqua, das traditionsreiche Festival Alter Musik, erschließt stets aufs neue musikalisches Neuland und führt sein Publikum auf unbekannten Wegen zu auch selten gespielte Perlen des frühen, barocken und frühklassischen Repertoires. In dieser Ausgabe sind das Heilige und das Mysteriöse – the Sacred and the Mysterious – thematische Ausgangspunkte einer Reise zu außergewöhnlichen, mitunter von biblischen Texten und Themen inspirierten Werken.

Klavierprogramm

Klavierenthusiasten kommen im sommerlichen Festival voll auf Ihre Kosten: Neben den russischen Ausnahmepianisten Arcadi Volodos und Grigory Sokolov und dem Debut des aktuellen Chopin-Preisträgers Bruce Liu darf sich das Publikum auf ein Wiedersehen mit Serena Valluzzi freuen die beim Busoni Finale im vergangenen Sommer durch ihre Musikalität und ihren ganz besonderen Stil bestach. Ein besonderes Konzert ist der für den 1. September angesetzte Klavierabend. Drei junge ukrainische Pianisten werden dem großen, in Kiew geborenen Vladimir Horowitz ihre Hommage erweisen werden. Illia Ovcharenko, Roman Lopatynskyi und Antonii Baryshevskyi sind zugleich Preisträger des Busoni Wettbewerbs und des in Kiew ansässigen Horowitz Wettbewerbs. Dazu dürfen Liebhaber intensiver Konzerterlebnisse sich auf einen veritablen Skrjabin Marathon freuen, in dessen Rahmen alle zehn Klaviersonaten als intensive musikalisch-biografische Reise, von den Frühwerken bis zu kurz vor seinem Tod entstandenen Kompositionen aufgeführt werden. Die Protagonisten sind Alexandre Chenorkian, Daumants Liepins, Salih Can Gevrek, Axel Trolese, Luigi Carroccia und Lana Suran, angeleitet von ihrem Kurator und Mentor Louis Lortie, der den Abend mit einer kurzen Einführung eröffnen wird.

Gustav Mahler Akademie

Der künstlerische Kurator der Gustav Mahler Akademie Philipp von Steinaecker macht sich auf die Suche nach dem Originalklang von Gustav Mahler´s 9. Sinfonie. Dank der Original-Instrumente aus der Sammlung des Euregio Kulturzentrums Toblach beschäftigt man sich zunächst in Bozen anhand von Kammermusik mit der Spielpraxis der vorvergangenen Jahrhundertwende. In Toblach als Ursprungsort der 9. Sinfonie von Mahler werden dann in einem Arbeitsblock diese Erkenntnisse in ein 3 teiliges Konzertprojekt fließen, das als Weltpremiere des Originalklangprojektes von Toblach über Bozen nach Ferrara führt. (Heinrich Schwazer)

Info: Das gesamte Programm unter www.bolzanofestivalbozen.eu

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