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Projekt über sexuellen Missbrauch in Südtirol

Georg Lembergh: Wir suchen für das Projekt weiterhin nach Menschen mit Missbrauchserfahrung, die ihre Geschichte erzählen wollen.

 

Der Tiroler Dokumentarfilmer Georg Lembergh arbeitet an einem Projekt über sexuellen Missbrauch in Südtirol. Mit einem Buch und einem Film will er die nach wie vor herrschende Tabuisierung des Themas aufbrechen. Ein Gespräch mit einem, der mit schrecklichen Geschichten konfrontiert ist.

Tageszeitung: Herr Lembergh, in Ihrem letzten Film „Das versunkene Dorf“ haben Sie das Schicksal der Dörfer Graun und Reschen dokumentiert. In ihrem neuen Projekt beschäftigen Sie sich mit sexuellem Missbrauch. Dem Thema haftet der Ruch des Unfassbaren und damit des Unsagbaren an. Was hat Sie bewogen, sich dieses tabuisierten Themas anzunehmen?

Georg Lembergh: Das Thema ist mich geradezu angesprungen, weil in meiner unmittelbaren Umgebung in Tirol letzthin mehrere Fälle ans Licht gekommen sind. Ganz in meiner Nähe gab es ein von Benediktinerinnen geführtes Kinderheim, in dem, wie jetzt offenbar wurde, Kinder jahrzehntelang  gequält und missbraucht wurden. Dazu wurde jetzt übrigens eine Untersuchungskommission eingesetzt. Auch es gab einen bekannten Skirennläufer aus meinem Dorf, Klaus Heidegger, der der Held meiner Kindheit war und mittlerweile als schwerreicher Mann in Amerika lebt. Klaus hat seine Biographie geschrieben, in der er erzählt, dass er als Bub vom Fussballtrainer im Ort sexuell missbraucht worden ist. Das hat mir bewusst gemacht, wie nahe solche Geschichten uns allen sind, ohne dass wir etwas davon wissen.

Wie sind Sie in Ihrer Recherche vorgegangen?

Ich habe im Radio und in diversen Medien Aufrufe gestartet, damit Betroffene sich bei mir melden. Daraufhin haben mich 30 Südtiroler und Südtirolerinnen kontaktiert.

Das sind nicht gerade viel.

Wenn man bedenkt, dass das Thema in Südtirol ein absolutes Tabu ist, ist das eine sehr hohe Zahl! Dass sich nicht noch mehr gemeldet haben zeigt nur, dass die Angst vor Stigmatisierung nach wie vor sehr groß ist. Es tauchen zwar immer wieder Berichte in den Medien auf, dann heißt es: Ach wie schrecklich und tragisch! Aber diese verschwinden auch gleich wieder. Es bedarf einer konstanten öffentlichen Berichterstattung, damit die Existenz dieses Problems überhaupt  zur Kenntnis genommen wird. Es gibt hierzulande noch keine breite gesellschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Es wird alles unter den Teppich gekehrt, niemand traut sich, darüber zu reden. Outings sind fast unmöglich, weil jeder jeden kennt. Es gibt eine hohe Mauer des Schweigens um dieses Problem herum.

Ist das in Österreich wesentlich anders?

In Österreich hat die Thematik 1995 seit dem Fall Kardinal Groer eine große Öffentlichkeit erlangt. Das hat eine Lawine ausgelöst. Seit 10 bis 15 Jahren wird in Deutschland und Österreich sexueller Missbrauch mit Untersuchungen, Kommissionen, Artikeln und Büchern verstärkt aufgearbeitet. Die 2010 in Österreich eingesetzte „Klasnic-Kommission“ hat bis 2020 über 3.300 Missbrauchsopfern Entschädigungszahlungen und Therapien zugesprochen. Im Umgang mit Betroffenen und Tätern hat sich einiges zum Besseren verändert. In Südtirol, das haben meine Recherchen deutlich zu Tage gebracht, ist das Thema sexueller Missbrauch noch viel schambehafteter, verschwiegener und unbewältigter. Der Schweigensdruck seitens der Gesellschaft ist enorm und nur wenige Betroffene finden den Mut sich zu „outen“ und sich psychologische Hilfe zu holen. Ohne mit dem Finger auf Südtirol zu zeigen, kann man sagen, da gibt es sicher einiges an Nachholbedarf.

Gibt es gesicherte Daten über die Zahl der Missbrauchsfälle?

Die Datenlage ist im Vergleich zu anderen Ländern, Deutschland etwa, dürftig bis nicht vorhanden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht für Deutschland von einer Million betroffener Mädchen und Jungen aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind pro Schulklasse (mit 20 Schülern) ein bis zwei betroffene Kinder. Wenn man die hohen Zahlen aus den Nachbarländern als Grundlage heranzieht, ist klar, dass die wenigen Betroffenen, die sich bei den zuständigen Südtiroler Stellen vom Land und der Kirche melden, nicht die realen Zahlen widerspiegeln. Es ist von einer sehr hohen Dunkelziffer auszugehen. Ich traf mehrfach auf Südtirolerinnen, an die ich während der Arbeit am Projekt rein zufällig geraten war, die mir erzählten, dass auch sie zu den Opfern gehören.

Arbeiten Sie in Ihrer Recherche mit der kirchlichen Ombudsstelle zusammen?

In der Kirche sind um Gottfried Ugolini herum Menschen am Werk, die es wirklich ernst meinen mit der Aufarbeitung. Diese geben uns einen sehr entschlossenen Rückhalt in unserer Recherche.

Wo tritt sexueller Missbrauch am häufigsten auf?

Am häufigsten in der Familie und im unmittelbaren sozialen Umfeld. Danach folgen Schule, Kirche, Sport und andere Institutionen. Gesellschaftlich gesehen kommt Missbrauch in allen Schichten vor.

Wie gehen die Opfer mit ihren Erfahrungen um?

Bevor ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe, war ich der Meinung, das ist wie ein Beinbruch beim Skifahren. Nach zwei Jahren hat man das vergessen. So ist es aber leider nicht. Opfer von sexuellem Missbrauch werden oft sehr früh aus der Bahn geworfen und finden häufig nie wieder zurück. Zum Teil ist ihr ganzes Leben überschattet von den Vorkommnissen in ihrer Kindheit und Jugend. Viele sind physisch und psychisch krank. Viele leiden an posttraumatischen Störungen wie Depressionen, Panikanfällen oder Flashbacks. Wenn sie von irgendetwas an Früher erinnert werden, ist gleich die ganze traumatische Vergangenheit wieder da.

Zum Beispiel?

Die Berichte sind teilweise so schrecklich, dass sie kaum zu ertragen sind. Zum Beispiel hat mir eine Frau von ihrem Missbrauch als Kind in ihrer Familie erzählt. Wenn sie heute ein Auto sieht, das dem damaligen Fahrzeug des Täters auch nur ähnelt, fängt sie an zu zittern und verfällt in Panik. In einem Dorf im Pustertal hat ein weit älterer angesehener Bürger ein junges Mädchen missbraucht und sie mit Psychoterror über lange Jahre gefügig gemacht. Bis weit in ihre Erwachsenenzeit hinein war es der Frau in einer Spirale aus Angst, Scham und Selbstmordgedanken nicht möglich, den Täter abzuwehren. Erst mithilfe ihres jetzigen Mannes und lebenslanger Therapien kam die entscheidende Wende. Der Täter ist mittlerweile gestorben, trotzdem gerät die Frau heute noch regelmäßig in tiefe Verzweiflung und Trauer darüber, damals von der Dorfgemeinschaft allein gelassen worden zu sein. In einem Ultentaler Dorf wurde ein Mädchen vom Pfarrer, „nur“, unter Anführungszeichen, sexuell bedrängt, dennoch sagt sie von sich, dass sie ein Leben lang ein psychisches „Hascherl“ gewesen ist. Manche bringen sich um, sind arbeits- und lebensunfähig, andere landen immer wieder in der Psychiatrie. Scham, Angst, Isolation, die Belastung, dass sie mit niemand darüber reden können, dass ihnen nicht geglaubt wird, wenn es sich um den eigenen Vater oder den Pfarrer im Ort handelt – das alles lässt sich nicht abschütteln. Ihr ganzes Leben steht unter diesem Vorzeichen.

Manche Opfer werden selber zu Tätern.

Das stimmt. Es gibt Fälle, wo der Missbrauch von Generation zu Generation weitergegeben wird, wenn es nicht durchbrochen wird. Eine Frau hat mir erzählt, dass sie im Alter von 18 Jahren endlich imstande war mit ihrer Mutter über den Missbrauch in der Familie zu reden. Die Mutter hat ihr geantwortet: Du, das ist ganz normal, das habe ich als Mädchen auch erlebt.

Wenn die seelischen Verletzungen bis ins Erwachsenenalter reichen – was können die Betroffenen tun? 

Es gibt einige Stellen die ausgezeichnete Arbeit leisten, wie z.B. La Strada in Bozen oder Lilith in Meran. Darüber zu reden, kann ein erster wichtiger Schritt sein, obwohl Viele auch das kaum schaffen. Die reden dann mit niemandem. Nicht mit ihren Familienmitgliedern, nicht mit ihrem Partner, die behalten das ein Leben lang für sich.  Der Film und das geplante Buch dazu sollen den Betroffenen eine Stimme verleihen und das Problem auf den Tisch legen. Es ist keine investigative Recherche, die Täter oder bestimmte Institutionen als Täter identifizieren soll. Unser Fokus liegt ganz allein bei den Opfern und ihrem Verarbeitungs- und Heilungsprozess. Indem man ihnen einfach zuhört, ihnen eine angemessene Stimme verleiht und dadurch die Würde wiedergibt, wird ein erster, äußerst wichtiger gesellschaftlicher Schritt getan.

Was wollen sie mit dem Projekt bewirken?

Es geht zunächst darum, den Deckel des Schweigens anzuheben und das Thema offen auf den Tisch zu legen. Sodass in einem zweiten Schritt eine gesellschaftliche Sensibilisierung und ein angemessener Umgang mit dem Thema erfolgen kann. Damit genauer hingeschaut, besser hinterfragt und den Opfern mehr Glauben geschenkt wird. Auch die Politik ist dann gefordert sich zu fragen, was es zu verbessern gilt, ob es z.B. genügend niederschwellige Anlaufstellen für Betroffene gibt, usw.

Was hat Sie an den Geschichten am meisten beeindruckt?

Am meisten hat mich beeindruckt, welche tiefgreifenden Auswirkungen sexueller Missbrauch auf den Lebenslauf von Menschen hat und wie langwierig und mühsam der Heilungsprozess ist. Der Film und das Buch beschäftigt sich mit den Fragen, wie sie es geschafft haben, ihre häufig beinahe unaussprechlichen Erlebnisse zu verarbeiten und wieder zu sich zu finden. Und wie sie es fertig gebracht haben aus der Opferrolle herauszutreten, und wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Die erschütternden Geschichten machen oft sprachlos, zeugen aber auch von unbändiger Energie und Widerstandskraft. Die Begegnung mit diesen beeindruckenden Menschen macht Mut und schenkt Hoffnung, dass ein gelungenes Leben trotz Missbrauchs möglich ist.

Sie suchen weiter nach Betroffenen.

Ja. Wir suchen für das Projekt weiterhin nach Menschen mit Missbrauchserfahrung, die ihre Geschichte erzählen wollen. Es wird in allergrößter Vorsicht, auf Wunsch anonymisiert und in absolutem Einverständnis mit den Betroffenen vorgegangen.

Interview: Heinrich Schwazer

Zur Person & Kontakt

Georg Lembergh, aufgewachsen in Tirol, Fotodesignstudium in Dortmund, lebt in Wien und Tirol und arbeitet als freischaffender Fotograf und Filmemacher.

Kontakt:
Georg Lembergh
0043 664 4507563

[email protected]

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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