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„Situation hat sich verschlimmert“

Foto: 123RF.com

Die Migrationssoziologin Claudia Lintner ruft dazu auf, die Flüchtlinge in der Corona-Krise nicht zu vergessen. Und wirft der EU Tatenlosigkeit vor.

von Eva Maria Gapp

Es ist ein schockierendes Foto, das derzeit im Umlauf ist: Darauf ist ein lebloser Körper zu sehen, der eingeklemmt an einem Gummiboot hängt und im Wasser treibt. Die deutsche Hilfsorganisation „Sea Watch“ hat das Foto veröffentlicht. Es handelt sich um einen Flüchtling, der seit zwei Wochen im Wasser treibt. Die Leiche des Mannes wurde mehrfach aus der Luft gesichtet, das erste Mal Ende Juni. Doch geborgen wurde sie noch nicht. Sea Watch kritisiert, dass den toten Bootsflüchtling niemanden interessieren würde und fordert mehr Hilfe für Flüchtlinge. Nach wie vor kann nicht mit Gewissheit gesagt werden, ob der Körper mittlerweile geborgen wurde oder noch immer im Wasser treibt.

Claudia Lintner, Dozentin und Forscherin für Migrationssoziologie an der Universität Bozen, machen solche Bilder traurig: „Das ist leider nicht das erste Foto dieser Art. Ich erinnere an das Foto des kleinen Aylan, welches um die Welt ging und zum Symbol für das Leid von Flüchtlingen wurde. Solche Bilder zeigen deutlich, dass die ganze Debatte rund um die Seenotrettung unmoralisch ist.“

Sie kritisiert, dass durch die Corona-Krise die mediale Aufmerksamkeit verlagert wurde und die Flüchtlingsdebatte in den Hintergrund gerückt ist: „Auch wenn sich die mediale Aufmerksamkeit verschoben hat, hat sich an der Situation der Migranten nichts geändert. Im Gegenteil. Sie hat sich unter den Sicherheitsmaßnahmen im Zuge der Corona-krise verschlimmert. Nach wie vor müssen Flüchtlinge unter katastrophalen und hygienisch unzumutbaren Bedingungen in den griechischen Flüchtlingslagern ausharren.“ Die Lager sind überfüllt und um zu Wasser oder zu einer Mahlzeit zu kommen, müssen die Menschen stundenlang anstehen. Und die Lage wird immer dramatischer.

Eigentlich wäre das Lager Moria für rund 3.000 Asylsuchende ausgelegt, doch mittlerweile leben dort über 20.000 Menschen – wie „Ärzte ohne Grenzen“ in einem Bericht schreibt. Und auf der griechischen Insel Samos sind derzeit rund 7.000 Flüchtlinge untergebracht. Eigentlich ist das Lager aber für 650 Hilfesuchende konzipiert worden.

Das heißt, diese Menschen sind dem Coronavirus gegenüber schutzlos ausgeliefert. Denn Abstand halten ist in solchen Lagern so gut wie nicht möglich. „Man kann sich vorstellen, dass die Corona-Maßnahmen unter solchen Umständen schlicht nicht eingehalten werden können. Es wird vor allem an Raum fehlen, um Sicherheitsabstand halten zu können, aber auch an Toiletten, Duschen und Desinfektionsmitteln“, sagt Lintner. Eigentlich müssten die Geflüchteten Schutz durch die griechische Regierung und die Europäische Union kriegen, aber laut „Ärzte ohne Grenzen“ werden sie nicht geschützt. Ein Ausbruch von Covid-19 in einem dieser Brennpunkte hätte katastrophale Auswirkungen auf die Gesundheit vieler Menschen.

Doch die EU schaue tatenlos zu – so die Kritik der Hilfsorganisationen. Immer wieder hätten sie um Hilfe gebeten. Sie fordern, dass die Lager evakuiert werden. Doch bislang seien sie nur auf taube Ohren gestoßen. Ihre Notrufe wurden ignoriert.

Ein Umstand, den Lintner kritisiert. Auch sie wirft der EU Tatenlosigkeit vor: „Es ist erschreckend, dass die EU nach wie vor das ignoriert, was vor ihren Toren passiert. Das Nichts-Tun ist auch eine Form der Akzeptanz.“

Und dadurch, dass der mediale Druck durch die Corona-Krise wegfiel, fiel auch der Druck auf die Politiker: „Die europäischen Staaten sind gerade sehr mit sich selbst beschäftigt. Die Corona-Krise nahm viel Druck eine Lösung in der Flüchtlingsdebatte zu finden“, so Lintner.

Dabei handle es sich hier um ganz klare Menschenrechtsverletzungen. Doch „man sieht, dass die Menschenrechte nur für eine kleine Gruppe von Menschen gelten und respektiert werden“ – kritisiert Lintner.

Nach wie vor würden sich auch zahlreiche Flüchtlinge im Mittelmeer befinden. Doch ihnen wurde besonders während der Corona-Krise die Möglichkeit an Land gehen zu dürfen, verwehrt: „Auch während dem Lockdown mussten immer wieder Boote tagelang im Mittelmeer ausharren, ohne dass sie ein sicheres Aufnahmeland erreichen“, bemängelt sie.

Lintner fordert deshalb: „Die EU darf ihre Verantwortung für diese Menschen inmitten der Coronakrise nicht vergessen.“

Auf der Suche nach einer Lösung für die Flüchtlingssituation in Europa kommen die EU-Staaten nicht voran. Laut Lintner gibt es dafür auch einen Grund: „Es steckt mittlerweile ein gesamteuropäisches Interesse dahinter, Flüchtlinge an den Außengrenzen zu halten und sie erst gar nicht nach Europa zu lassen.“

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (11)

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  • bernhart

    Frau issy, ihr Kommentar ist gut nur viele wollen es nicht verstehen, Flüchtlinge haben sich für dies
    Leben entschieden, wieso muss dann die EU für die Versorgung dieser aufkommen.
    Immer das selbe Spiel alle fordern und keiner will bezahlen.
    Den Migranten keine Chance geben, das stimmt nicht viele wollen nicht arbeiten und welche die sich intigrieren haben kein Problem.
    Not im eigenen Land,diese Personen sollten zuerst geholfen werden.

  • tirolersepp

    Es wird nur mit geregelter Einwanderung gehen, ansonsten kommt es zwangsläufig zu Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung !

  • tirolersepp

    Ihre Forderung Frau Lintner in allen Ehren, die Realität sieht leider anders aus.

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