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„Verzerrte Wahrnehmung“

Was geht im Kopf eines Lehrers vor, der seine Schülerinnen sexuell missbraucht? Psychiatrie-Primar Roger Pycha über den Pädophilie-Fall, der nicht nur das Gericht beschäftigt. 

Tageszeitung: Herr Pycha, ein Südtiroler Grundschullehrer sitzt in Untersuchungshaft weil er Schülerinnen während des Unterrichts unsittlich berührt hat. Was ging dabei im Kopf des Mannes vor, der hochgebildet, sowie kulturell und politisch aktiv ist?

Roger Pycha: Wir müssen davon ausgehen, dass die Sexualität ein Bereich ist, der noch immer vielen Tabus unterworfen ist und höchste Privatsphäre bedeutet. Jemand kann also durchaus politisch und gesellschaftlich engagiert und erfolgreich sein, auf der anderen Seite aber gefährliche persönliche Neigungen haben. Menschen sind so beschaffen, dass sie in bestimmten Sphären eine Art von Gesetzmäßigkeit anerkennen und in anderen Bereichen, gerade in privaten Sphären, komplett andere. Viele Täter sehen unsere gesellschaftlichen Normen und Regeln als nicht so bedeutsam, notwendig und wichtig an und sich selbst als Ausnahme.

Er hat sozusagen ein Doppelleben geführt…

Im Grunde führen wir alle mehrere Doppelleben. Es gibt privates Verhalten im Kreis der Familie, noch privateres Verhalten in der Partnerschaft und ein Verhalten, welches man in der Öffentlichkeit an den Tag legt. Dass da Unterschiede bestehen können, ist normal, wenn diese Unterschiede aber zu groß werden, entsteht leicht innere Zerrissenheit und Gefahr.

Müsste jemand, der hochgebildet und intelligent ist, sich, insbesondere innerhalb eines pädagogischen Umfelds, nicht der Tragweite seines Tuns bewusst sein?

Das ist eine zweischneidige Geschichte. Täter sehen oft nicht wie kriminell, gefährlich oder schädigend sie für die Kinder sind, die sie missbraucht haben. Täter glauben oft, dass sie ihren Opfern regelrecht etwas Gutes getan haben – und das ist eine absolut verzerrte Wahrnehmung. Wir wissen aus Studien, dass viele Menschen, die später im Leben mit Suchterkrankungen, Angststörungen, Depressionen oder einem gestörten Sexualverhalten kämpfen müssen, in ihrer Kindheit missbraucht wurden. Diese Erlebnisse in der Kindheit sind absolut gravierend – wir müssen da eine ganz klare Grenze ziehen, weil diese Erlebnisse die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen und schädigen können. Die Täter müssen vor allem auf sich selbst aufpassen, sie müssen ein Gefühl dafür entwickeln, dass sie da höchst Schädigendes und Bösartiges tun, wenn sie ihren Neigungen nachgehen.

Die Opfer des Lehrers waren zwischen acht und neun Jahre alt. Wie nehmen diese Mädchen derartige Berührungen wahr?

Sicher muss man hier auch ein breites Feld von Missverständnissen berücksichtigen: Wenn kleine Kinder im Sinne des Kuschelns und des Schmeichelns Nähe suchen und provozieren, muss man als Lehrer umso klarer imstande sein, eine Grenze zu ziehen. Als Lehrer muss ich wissen, was zu nahe ist und was als zu nahe erlebt werden kann – auch von den Eltern. Kinder müssen in der Schule die nötige Distanz zu Gleichaltrigen und anderen Personen lernen. Wenn diese Distanz vom Lehrer nicht vermittelt wird, sondern er sie viel mehr Grenzsituationen ausliefert, dann ist er kein guter Pädagoge. Er glaubt vielleicht, dass man seine Neigungen nicht erkennt oder projiziert die Schuld auf die Kinder, weil sie derartige Situationen provoziert haben.
Der Lehrer hat die Spur auf sich selbst gelenkt, indem er den Eltern gesagt hat, dass die Kinder nicht so anhänglich sein sollen…
Grundsätzlich hat der Lehrer die Verantwortung dafür, dass Grenzen eingehalten werden und er kann schlecht sagen, dass die Kinder diese Grenzen nicht eingehalten und ihn damit provoziert haben. Er hat als Lehrer sicher versagt.

Der beschuldigte Lehrer war kulturell und politisch engagiert und trat in der Öffentlichkeit auf. Müsste er deswegen nicht noch vorsichtiger sein?

Studien zeigen, dass wer im normalen Leben erfolgreich ist, dazu neigt, seine privaten Neigungen sehr viel lockerer auszuleben – dazu gibt es viele prominete Beispiele. So etwas könnte ich mir auch in diesem Fall vorstellen.

Kann dieser Mann je wieder als Lehrer eingesetzt werden?

Ich würde davon eher abraten. Nicht nur als Schutz für die Schüler, sondern auch weil es besser ist für den Lehrer. Er würde immer wieder in Versuchung kommen und dementsprechend könnte es auch neue Gefahrensituationen geben. Pädophile Leute suchen die Nähe zu Kindern und deswegen ist auch der Lehrberuf eine nicht so seltene Berufswahl. Wenn man aber bemerkt, dass jemand seine Vertrauensposition missbraucht, dann muss man umgehend reagieren und diese Person entfernen.

Interview: Lisi Lang

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (2)

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  • snoopy

    Der Beitrag ist von 2018, aber was mich stört, dass Dr. Roger Pycha alles zu verstehen scheint. Er spielt sich als Gott auf, der er aber nicht ist. Ich spreche aus eigener Erfahrung, da ich jahrelang mit ihm zu tun hatte. Er ist nicht allwissend, intelligent ja, aber hat wie jeder Mensch seine Grenzen. Bitte hören sie auf mit ihrer Klugscheißerei, Herr Pycha.

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