„Bin gegen Schlangengift immun“
Die Justiz, die von vier Sekten verwaltet wird, das Blutbad von Erba und die Zukunft Europas: Warum es den ehemaligen Bozner Chefstaatsanwalt Cuno Tarfusser in die Politik zieht.
TAGESZEITUNG: Herr Dr. Tarfusser, warum zieht es Sie in die Politik? Wieso begibt sich ein Mann der Justiz freiwillig in die Schlangengrube der Politik
Cuno Tarfusser: Nicht jeder wird von einer Schlange gebissen, und nicht jede Schlange ist giftig, und nicht jeder Politiker ist eine Schlange. Im übrigen bin ich nach 40 Jahren in der Justiz gegen jedes Schlangengift immun. Spaß beiseite. Im August erreiche ich das Pensionsalter. Da ich körperlich und geistig noch völlig fit bin, empfinde ich es als Pflicht, meine einmalige, nationale und internationale Berufserfahrung an die Gesellschaft weiterzu geben und als Dienst zur Verfügung zu stellen. Das EU-Parlament als höchste demokratische Institution ist, glaube ich, der richtige Ort dafür.
Sie treten auf der Liste von Carlo Calenda an. Sie haben erklärt, Sie hätten ohnehin diese Liste gewählt. Warum?
Weil ich ein Mensch der demokratischen, sozialen und liberalen Mitte bin. Weil ich ein Europäer bin. Weil ich ein Demokrat bin. Weil ich für die Stärkung der Rechte und des Rechts einstehe.
Wer ist an Sie herangetreten? Wie hat man Ihnen die Kandidatur schmackhaft gemacht?
An mich ist Alt-Senator Ivo Tarolli als Vertreter der „Popolari d’Europa“, eine politische Gruppe die – zusammen mit den Team K und anderen – das Rassemblement um Calenda bildet, herangetreten. Calenda hat mich dann angerufen und ist zu mir nach Mailand gekommen.
Haben Sie sofort zugesagt oder sich Bedenkzeit erbeten?
Natürlich habe ich mir einige Tage Bedenkzeit erbeten, zumindest um mit meiner Frau zu sprechen. Vom Vorschlag bis zur Entscheidung ist aber keine Woche vergangen. Ein „dolo d’impeto“, keine „premeditazione“ – so würde ich als Jurist meine Entscheidung bezeichnen.
In den letzten Umfragen liegt Calendas Azione unter der 4-Prozent-Marke. Die Wiese ist also noch nicht gemäht. Warum gehen Sie das Risiko ein, nicht gewählt zu werden?
Wenn ich nicht gewählt werde, was übrigens sehr wahrscheinlich ist, dann bin ich eben ab 11. August ein Pensionist und werde mich nach anderen nützlichen, sozialen Aufgaben umsehen.
Welchen Mehrwert hätte Südtirol mit einem EU-Parlamentarier Tarfusser?
Ich weiß nicht, welchen Mehrwert Südtirol hätte, sicher hätte Italien einen. 40 Jahre Berufserfahrung im öffentlichen Dienst auf höchstem nationalen und internationalen Niveau und die Kenntnis von vier Sprachen kann nicht jeder vorweisen, oder? Ich brauche also nicht die Politik, um Karriere zu machen, vielmehr stelle ich der Politik meine Karriere als Dienst zur Verfügung.
Sie sind – auch durch Ihre Tätigkeit am ICC – ein weltweit bekannter Jurist. Welche ist Ihre Botschaft an die WählerInnen? Was möchten Sie in Europa bewegen?
Ich glaube dass wir alle das Bewusstsein stärken müssen, Europäer zu sein. Europa ist viel mehr als nur eine Interessensgemeinschaft mehrerer Staaaten. Und die nächsten Jahre werden zeigen, ob Europa ein Global Player im geopolitischen Spektrum ist, oder ob unser Kontinent zwischen USA und China zerdrückt wird. Das große Problem ist, dass wir glauben, dass das, was unsere Väter und wir aufgebaut haben, normal und unumkehrbar ist. Leider haben wir jüngst erleben müssen, dass dem nicht so ist. Also ist es äußerst wichtig, Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Schutz der Rechte und des Rechts, das friedliche Zusammenleben und eine geordnete, respektvolle Multikulturalität zu verbreiten und vorzuleben. Dazu braucht es Europa. Populismus und Nationalismus sind unhistorische Krebsgeschwüre, die es zu bekämpfen gilt.
Blicken wir auch auf Italien: Sie haben sich in den vergangenen Jahren sehr kritisch zum Zustand der italienischen Justiz geäußert. Welche Justiz wollen Sie?
Die italienische Justiz hat sich von einer Autonomie in eine Autokratie, von einer autonomen in eine autokratische Verwaltung entwickelt. Eine Verwaltung, der in keiner Weise Kompetenz und Fähigkeit zugrunde liegt, sondern die ausschließlich von der Zugehörigkeit zu einer der vier politischen Strömungen, ich nenne sie Sekten, in die die justizielle Macht aufgeteilt ist, geprägt ist. Das muss geändert werden, wenn wir eine Justiz wollen, die den Bürgern dient und nicht arrogant und selbstherrlich ist. Ich habe zu meiner Zeit als Oberstaatsanwalt gezeigt, welches Verbesserungspotential möglich ist, aber leider wurde alles wieder zerstört als ich nach Den Haag berufen wurde.
Es wird jetzt natürlich auch die geben, die sagen, Sie hätten eine Wiederaufnahme des Prozesses zum Blutbad von Erba nur gefordert, um sich Publicity zu machen? Was antworten Sie?
Klar, alles gibt’s. Auch solche die glauben, alles zu wissen. Mit denen beschäftige ich mich nicht.
Bleiben wir noch bei Erba: Sind Sie nach wie vor von Ihrem Tun überzeugt?
Ja, absolut. Ich war mir am 31. März vorigen Jahres sicher und völlig bewusst, was ich tat. Und bin mir es heute, wenn möglich, noch mehr. Ich behaupte: Die beiden Verurteilten haben mit dem Blutbad von Erba nichts zu tun. Das sage nicht ich, das sagen die Gerichtsakten, aber auch die Logik oder – wenn Sie so wollen – der gesunde Hausverstand. Dabei bin ich mir bewusst, dass es auch einige gibt, die das nicht so sehen. Die haben aber entweder die Akten nicht gelesen oder aber die Kultur des Zweifels aufgegeben, oder das Bewusstsein an Recht und Gerechtigkeit verloren.
Was geschieht, wenn Sie den Sprung ins EU-Parlament nicht schaffen?
Wie schon gesagt, nichts Besonderes. Sicher ist nur, dass ich nicht vor Verzweiflung von Bar zu Bar zu gehen werde ein Glasl zu trinken.
Interview: Artur Oberhofer
Kommentare (17)
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