Obdachloser Forscher
Ein Forscher, ein Koch mit Jahresstelle in Gröden, der an seinem freien Tag nicht in der Dienstwohnung übernachten darf oder der typische Saisonarbeiter: Thomas Hellrigl, Direktor der Sozialdienste, über die vielen Gesichter der Obdachlosigkeit und wie Bezirksgemeinschaft Eisacktal vergangenes Jahr über 40 Zwangsräumungen verhindern konnte.
Im Winter war die Notwendigkeit groß: Unter großen Anstrengungen wurden Notunterkünfte für obdachlose Menschen gesucht – vorwiegend in Bozen, aber auch in anderen Bezirkshauptstädten, um die Landeshauptstadt zu entlasten.
In Brixen wurde das Pfarrheim in Milland ausfindig gemacht, das aber dann nie in Betrieb genommen wurde.
Insgesamt konnten im abgelaufenen Winter 2023/24 schließlich 415 Plätze bereitgestellt werden. Diese Notunterkünfte werden mit April geschlossen.
Nur das Gebäude im Landeseigentum in der Paccinottistraße in Bozen bleibt für Menschen mit einem besonderen Schutzbedürfnis – arbeitende Obdachlose, die keinen bezahlbaren Wohnraum finden, obdachlose Frauen und vulnerable Personengruppen – weiterhin geöffnet.
Aber es sind noch Unterkünfte, unter anderem für Familien, nötig. Diese müssen im gesamten Landesgebiet gesucht werden. „Die Gespräche mit den Gemeinden und Bezirksgemeinschaften laufen, um Räumlichkeiten zu finden, in denen Familien eine Unterkunft finden“, erklärt Soziallandesrätin Rosmarie Pamer.
Thomas Hellrigl, Direktor der Sozialdienste in der Bezirksgemeinschaft Eisacktal, über die Gründe, warum das Pfarrheim in Milland nicht geöffnet wurde – und über das Problem der Obdachlosigkeit, das immer komplexer wird.
Tageszeitung: Herr Hellrigl, auch die Bezirksgemeinschaft Eisacktal war im Winter aufgefordert, eine Kälteunterkunft zu suchen. Mit dem Pfarrheim in Milland hat man eine Struktur ausfindig gemacht, die aber nie in Betrieb genommen wurde…
Thomas Hellrigl: Im Rundschreiben, das das Land verschickt hatte, wurden die Bezirksgemeinschaften angehalten, aktiv zu werden, um Bozen zu entlasten. Wir hatten jedoch zuerst lange Zeit Probleme, Räumlichkeiten zu finden. Diese haben wir schlussendlich in Milland gefunden, wo zehn bis 15 Personen Platz gefunden hätten. Nachdem wir ein positives Gutachten vom Amt für Schätzungen des Landes für die Anmietung erhalten hatten, ist die Inbetriebnahme am Personal gescheitert. Wir haben die Führung ausgeschrieben, weil diese von der Bezirksgemeinschaft nicht übernommen werden kann, weil wir kein Personal haben. Wir hatten mit mehreren Vereinigungen Kontakt, unter anderem mit dem Roten Kreuz. Schließlich hat sich aber niemand für die Führung gemeldet, weil kein Personal gefunden werden konnte. Daher wurde in Brixen keine zusätzliche Kälteeinrichtung geöffnet.
In Brixen stand die Obdachlosenstätte zur Verfügung: Reichten dort die Plätze aus?
Mit der Übernachtungsstätte konnten wir allen unseren Obdachlosen, die die Voraussetzungen hatten, einen Platz bieten. Der Bedarf an zusätzlichen Strukturen war nicht gegeben. Aber man muss auch ehrlich sein: Das Angebot schafft die Nachfrage. Und hätten wir diese Kälteunterkunft in Milland geöffnet, wäre vielleicht der eine oder andere Obdachlose gekommen.
Das Problem der mangelnden Schlafplätze wird sich im heurigen Winter wieder stellen: Wird man die Struktur in Milland dafür freihalten?
Der Besitzer, also die Pfarrei entscheidet. Aktuell ist dort die Kita untergebracht. Es ist nicht so einfach, Strukturen bzw. Wohnungen für diese Zweckbestimmung zu finden. Die Bezirksgemeinschaft selbst besitzt ja keine eigene Struktur hierfür. Und in einigen Monaten wird sich auch wieder die Frage der Führung stellen. Es braucht Personal.
Wir werden jetzt nochmals mit der Landesabteilung 24 sprechen: Die Situation ist jetzt eine andere wie vor einem Jahr. Größere Zentren werden jetzt nicht geschlossen, sondern ganzjährig offengelassen. Und ich möchte betonen: Ich bezweifle, dass es sinnvoll ist, die Obdachlosen mit dem Zug nach Brixen zu bringen und am nächsten Morgen wieder zurück nach Bozen.
Aktuell werden Wohnungen für obdachlose Familien gesucht. Die Landesrätin sagt, dass die Gespräche mit den Gemeinden und Bezirksgemeinschaften hierzu laufen…
Zur aktuellen Situation hat uns das Land noch nicht kontaktiert. Und ich muss betonen: In unserer Struktur wären immer nur obdachlose Männer untergebracht worden. Wenn wir von Familien reden, dann reden wir nicht von obdachlosen, sondern von wohnungslosen Familien. Und in letzteren Fällen liegt die Zuständigkeit bei den Gemeinden und nicht bei der Bezirksgemeinschaft.
Glauben Sie, es finden sich Wohnungen für Familien?
Ein schwieriges Thema, das sich in Zukunft weiter zuspitzen wird. Der Wohnungsmarkt in Brixen ist überteuert, und die Familien können sich die Wohnungen nicht mehr leisten. Und draußen in den Dörfern ist für viele Familien das Leben nicht mehr so attraktiv. Ich war erst heute (gestern Anm. d. Red.) in einer Wohnung, in der Frauen untergebracht werden, die aus dem Frauenhaus kommen. Aber auch Senioren oder Familien tun sich sehr schwer, auf dem Wohnungsmarkt zu leistbaren Preisen etwas zu finden.
Müssen in Südtirol schon Familien auf der Straße leben?
Zum Glück noch nicht. Bisher konnten wir für Familien immer noch eine Wohnung finden, wenngleich sie oft nicht in Brixen bleiben konnten, sondern in andere Gemeinden übersiedeln mussten. Mit entsprechenden Folgen: Die Kinder mussten aus ihrem sozialen und schulischen Umfeld gerissen werden, der Arbeitsplatz war komplizierter zu erreichen usw.
Unser Auftrag ist auch, Präventionsarbeit zu leisten: Wir versuchen jene, die Richtung Obdachlosigkeit schlittern – und solche haben wir viele – frühzeitig aufzufangen: mit der finanziellen Sozialhilfe, mit Sozialprojekten usw. Wir versuchen Familien über unser Netzwerk aufzufangen, um zu verhindern, dass sie ihre Wohnung verlieren. Wir arbeiten mit der Schuldnerberatung und dem Wohnbauinstitut eng zusammen. Mit dieser Unterstützung konnten wir in den vergangenen Jahren sehr viele Wohnungsräumungen verhindern.
Wie viele Wohnungsräumungen konnten im Vorjahr verhindert werden?
Wir hatten mindestens 40 bis 60 Fälle.
Kam es auch zu Zwangsräumungen?
Ja, auch. Hierzu muss man sagen, dass nicht alle Betroffene mit uns in Kontakt sind.
Kann man abschätzen, um wie viel die Anzahl der Obdachlosen in Südtirol zunehmen wird?
Nein. Die Obdachlosigkeit hängt mit sehr vielen Gründen zusammen und das Thema ist sehr komplex. Der klassische Obdachlose ist nicht mehr der Sandler auf der Straße. Wir betreuen Menschen, die arbeiten, und doch keine Wohnung haben.
Es gibt Geschichten, die Bände sprechen: Ein Koch mit einer Jahresstelle in Gröden wurde bei uns vorstellig. Er darf immer nur in der Dienstwohnung übernachten, wenn er arbeitet, an seinem freien Tag darf er dort jedoch nicht schlafen.
Ein weiteres Beispiel: Ein junger Mann, der in der Forschung und Entwicklung an einem anerkannten Institut tätig ist, musste sich heuer einen Platz in einer Obdachlosenstätte in Bozen suchen, weil er sonst keine Unterkunft fand. Klassisch sind mittlerweile die Fälle der ausländischen Gastronomieangestellten: Sie haben eine Saisonanstellung. Weil die Betriebe aber mittlerweile oft nur mehr für einen Monat schließen, fahren diese Mitarbeiter nicht mehr nach Hause. Aber in dieser Zeit müssen sie die Dienstwohnung räumen, für die Übergangszeit findet sich jedoch keine andere Unterkunft.
Eine sehr komplexe Problematik?
Ja, sehr viele Problematiken greifen hier ineinander. Das macht es für uns auch schwierig, Lösungen zu finden. Dies gelingt uns nur, weil wir im Netzwerk arbeiten. Und zuweilen können wir auch nicht helfen, auch weil die betroffenen Personen meldeamtlich nicht erfasst sind.
Interview: Erna Egger
Kommentare (13)
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