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Gebrochenes Tabu

Foto: Zivilinvalidenverband

In Südtirol gibt es knapp 47.000 Zivilinvaliden. Immer mehr Personen lassen ihre Krankheit offiziell anerkennen.

46.697 Südtiroler und Südtirolerinnen leben mit einer körperlichen, psychischen oder geistigen Einschränkung und sind deshalb als Zivilinvalide anerkannt. Anhand aktueller Daten erklärt ihre größte Interessensvertretung, die Vereinigung der Zivilinvaliden (ANMIC Südtirol), die wichtigsten Informationen über dieses weitläufige Thema und gibt Aufschluss darüber, um welche Unterstützungsmaßnahmen und finanzielle Leistungen jetzt angesucht werden sollte.

„Mit einem Plus von 644 Personen steigt die Anzahl der in Südtirol anerkannten Zivilinvaliden wieder“, erklärt Thomas Aichner, Präsident der ANMIC Südtirol. „Es ist sehr wichtig, dass Menschen mit einer angeborenen oder erworbenen Krankheit um diesen Status ansuchen. Nur dann kommen öffentliche Hilfeleistungen dort an, wo sie dringend benötigt werden. Um zu verstehen, wie viele Menschen davon betroffen sind und um die Interessen der Südtiroler Zivilinvaliden zu schützen und auszubauen, hilft ein Blick auf die aktuellen Zahlen und Entwicklungen. Deshalb erhalten wir seit Jahren relevante Daten vom betrieblichen Dienst für Rechtsmedizin.“

Zivilinvaliden sind Personen, welche ihre angeborene oder erworbene Krankheit durch eine öffentliche Ärztekommission anerkennen lassen. Dabei sollte das Gesuch zur Feststellung der Zivilinvalidität dann eingereicht werden, wenn die Tätigkeiten des alltäglichen Lebens zunehmend einschränkt werden und dadurch soziale, arbeitstechnische oder finanzielle Nöte entstehen. Je nach Schweregrad der Krankheitsgeschichte entscheidet die Ärztekommission über das Ausmaß des Invaliditätsgrades, welcher von 34% bis 100% reicht.

Mit Blick auf die aktuelle Statistik wird deutlich, wie viele Südtiroler als Zivilinvalide anerkannt sind: Im Vergleich zum Vorjahr haben zusätzliche 644 Personen um diesen Status angesucht, wodurch ihre Zahl auf aktuell 46.697 Zivilinvaliden gestiegen ist. „Dies entspricht einem Zuwachs von 1,4%“, erklärt Thomas Aichner. „Der Anstieg ist überproportional zum Bevölkerungswachstum, denn die Bevölkerung nahm im selben Zeitraum um 1.627 Personen bzw. um 0,3% ab. Wir wissen aus vielen Gesprächen mit unseren Mitgliedern, dass Hilfeleistungen immer dringender gebraucht werden und viele erkrankte Personen nicht mehr mit einer geringfügigen Arbeit, ihrer Rente oder ihrem Ersparten auskommen. Auch deshalb wird vermehrt um Zivilinvalidität angesucht“, berichtet Thomas Aichner.

Denn die damit verbundenen Hilfeleistungen reichen – um nur einige zu nennen – von der Vergabe kostenloser Hilfsmittel, über die Möglichkeit der vorzeitigen Pensionierung, bis hin zur Gewährung finanzieller Leistungen. Besonders letztere, wie die Auszahlung der monatlichen Zivilinvalidenrente von 487,73 Euro oder das Begleitgeld von 531,76 Euro pro Monat werden besonders dringend benötigt.

Dabei wird anhand der aktuellen Zahlen deutlich, dass im Vergleich zum Vorjahr die Anzahl der Vollinvaliden (100% Zivilinvalidität) mit einem Zuwachs von 325 Personen bzw. +4,3% am signifikantesten gestiegen ist – während die Zahl der Zivilinvaliden unter 74% mit einem Plus von lediglich 93 Personen (+0,4%) am geringsten anstieg. „Dies bedeutet, dass sich der Gesundheitszustand vieler Betroffener seit dem Vorjahr verschlechtert hat, weshalb um eine Erhöhung der Zivilinvalidität angesucht wurde“, erklärt Thomas Aichner weiter.

„Falls die erkrankte Person sowieso im Besitz ärztlicher Zeugnisse ist, raten wir stets das Gesuch um Zivilinvalidität einzureichen: Denn je nach Bescheid der Ärztekommission können auf diese Weise wichtige Hilfeleistungen in Anspruch genommen werden, welche die Betroffenen und ihre Familienangehörigen entlasten.“

Anerkannte Zivilinvaliden bis Jänner 2023 Anerkannte Zivilinvaliden bis Jänner 2024 Veränderung
Unter 74% Zivilinvalidität 20.991 21.084 +0,44%
74%-99% Zivilinvalidität 11.401 11.542 +1,24%
100% Zivilinvalidität 7.524 7.849 +4,32%
100% Zivilinvalidität mit Begleitgeld 6.137 6.222 +1,39%
Gesamt 46.053 46.697 +1,40%
Bevölkerung in Südtirol 535.774 534.147 -0,30%

Trotz der gestiegenen Anzahl von Vollinvaliden, sind in Südtirol jene Personen am häufigsten vertreten, bei denen die Ärztekommission eine Zivilinvalidität von weniger als 74% festgestellt hat. Genauer gesagt leben in Südtirol 21.084 Menschen mit einer Zivilinvalidität von 34% bis 73%.

„Dass auf Landesebene so viele Menschen mit einer Krankheit leben und wir uns dessen nicht immer bewusst sind, hängt damit zusammen, dass die meisten Pathologien unsichtbar sind“, merkt Thomas Aichner an. „Wenn wir von Zivilinvaliden sprechen, haben wir es meistens mit Personen zu tun, deren Erkrankung nicht augenscheinlich ist. Dazu gehören beispielsweise psychische Erkrankungen wie die bipolare-affektive Störung oder etwa Morbus Chron, eine chronische Darmerkrankung. Auch bei derartigen Diagnosen kann um Zivilinvalidität angesucht werden, wobei der Schwergrad der Erkrankung ausschlaggebend für die Höhe des anerkannten Prozentsatzes ist.“

Thomas Aichner

Um das Tabu der Zivilinvalidität zu brechen und um möglichst viele Südtiroler darüber zu sensibilisieren, ist Aufklärung und Informationsarbeit notwendig. Deshalb setzt sich die ANMIC Südtirol seit Jahren dafür ein, diesem unsichtbaren Thema Sichtbarkeit zu verleihen. „Eines unserer neuesten Projekte ist eine Sensibilisierungskampagne in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die wir in Zusammenarbeit mit der Südtiroler Transportstrukturen AG (STA), realisieren. Die ausgearbeiteten Texte und Grafiken haben das Ziel, alle Altersklassen anzusprechen und das Thema Zivilinvalidität bildhaft zu beschreiben. Schon bald sollten die ersten Anzeigen in den Südtiroler Bussen und Zügen zu sehen sein“, freut sich Thomas Aichner.

Neben der Zivilinvalidität gibt es noch eine weitere Bescheinigung, welche die allgemeine Lage zur Anerkennung der Behinderung überprüft und somit zusätzliche Hilfeleistungen vorsieht: Die Behinderung laut Gesetz 104/92. Diese wird besonders für die steuerrechtlichen Begünstigungen und die entlohnten Arbeitsfreistellungen geschätzt.

Die Statistik zeigt hier einen besonders signifikanten Anstieg: Gab es bis Jänner 2023 noch 15.662 Personen mit einer Behinderung laut Gesetz 104/92, so waren es im Folgejahr 16.816 Personen.

Dies entspricht einem Anstieg von 1.154 Personen bzw. +7,37%, welchen Thomas Aichner wie folgt begründet: „Wir gehen zum einen davon aus, dass Betroffene und deren Angehörige immer besser über die Hilfeleistungen dieses Gesetzes informiert sind und folglich vermehrt darum ansuchen. Gleichzeitig beobachten wir einen Anstieg psychischer Erkrankungen, die ebenfalls durch dieses Gesetz bescheinigt werden und die gerade in der jungen Bevölkerung vermehrt auftreten. Deshalb wurde der staatliche Psychologen-Bonus (bonus psicologo) auch für das Jahr 2024 erneuert. Je nach ISEE-Wert sieht dieser Bonus einen Beitrag von bis zu 1.500 Euro vor und kann bis zum 31. Mai 2024 angesucht werden“, so Thomas Aichner.

Bis Jänner 2023 Bis Jänner 2024 Veränderung
Menschen mit einer Behinderung lt. Gesetz 104/92 15.662 16.816 +7,37%

 

Dass Jugendliche und Kinder ebenso von Krankheiten und anderen Einschränkungen betroffen sind, bestätigen auch die Zahlen: Bis zum Vorjahr gab es in Südtirol nämlich 2.695 Zivilinvaliden unter 25 Jahren. Dieselbe Altersklasse verzeichnete ein Jahr drauf einen Zuwachs von 110 Jugendlichen, was einem Plus von 4,26% entspricht. Verglichen mit anderen Altersklassen aus der Datenerhebung verzeichnen die unter 25-jährigen-Zivilinvaliden somit den stärksten Anstieg im Vergleich zum Vorjahr.

„Es ist vor allem für die spätere Arbeitssuche wichtig, so früh wie möglich um die Anerkennung der Zivilinvalidität anzusuchen“, weiß Thomas Aichner. „Die Antragstellung sollte idealerweise bis spätestens 2 Jahre vor der Matura erfolgen, damit der Übergang Schule-Arbeit erfolgen kann. Hierbei handelt es sich um ein Programm, welches zwischen den Schulen und dem Amt für Arbeitsmarktintegration erfolgt und die Arbeitsfindung nach Schulabschluss erleichtert“, erklärt Thomas Aichner.

Zivilinvalidität bis Jänner 2024 nach Alter 0-17 Jahre 18-44 Jahre 45-64 Jahre 65-75 Jahre Über 75 Jahre
Unter 74% Zivilinvalidität 1.144 2.159 5.520 7.020 5.241
74%-99% Zivilinvalidität 956 1.044 2.022 3.005 4.515
100% Zivilinvalidität 49 194 677 1.474 5.455
100% Zivilinvalidität mit Begleitgeld 546 439 518 845 3.874
Gesamt 2.695 3.836 8.737 12.344 19.085

Wurde dem Kind oder Jugendlichen die Zivilinvalidität oder die Behinderung laut Gesetz 104/92 zuerkannt, so sind – je nach Einstufung – verschiedene Hilfeleistungen vorgesehen. Eine davon ist das einheitliche Kindergeld (assegno unico), welches vom Nationalen Institut für soziale Fürsorge (NISF/INPS) gewährt wird.

„Das Ausmaß dieser finanziellen Unterstützung setzt sich zum einen aus einem monatlichen Betrag zusammen, der unabhängig vom Alter des Kindes auf Grundlage der ISEE-Erklärung berechnet wird. Zudem kann bis zum 21. Lebensjahres des Kindes und je nach seiner gesundheitlichen Situation ein monatlicher Zuschlag von bis zu 119,60 Euro gewährt werden.“, berichtet Thomas Aichner.

„Wir empfehlen, die Anträge zwischen dem 1. März und dem 30. Juni 2024 einzureichen, da das Kindergeld in diesem Zeitraum rückwirkend ab März 2024 ausbezahlt wird – und nicht wie üblich ab dem Folgemonat der Gesuchstellung. Außerdem laden wir alle Betroffenen dazu ein, sich hinreichend über die ihnen zustehenden Rechte und finanziellen Leistungen zu informieren, damit diese auch beantragt werden können.

Die Vereinigung der Zivilinvaliden (ANMIC Südtirol) ist eine ehrenamtliche Organisation (EO) ohne Gewinnabsichten, die auf Staats- und Landesebene seit 1965 bzw. 1994 anerkannt ist. Als die einzige rechtliche und gesetzliche Vertretung der Zivilinvaliden und -versehrten vertritt die ANMIC Südtirol diese bei öffentlichen Ämtern sowie in privaten Betrieben, damit sie vollständig in den sozialen sowie beruflichen Alltag integriert werden. Mit mehr als 6.000 Mitgliedern ist die ANMIC Südtirol die größte Interessensvertretung für Zivilinvaliden und Menschen mit Behinderung in Südtirol.

 

 

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (1)

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  • meintag

    Man merkt es ist Frühling. Die Zeit für die Steuererklärung. Ich habe seit Jahren für diesen Verein gespendet obwohl man für die Mitgliedschaft auch noch zur Kasse gebeten wird. Hilfe habe ich aber keine bekommen. Deshalb gibts auch kein Geld mehr. Ach ja die Psychologin im Bezirk Meran? Geschenkt und ab!

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