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Sternstunde sakraler Chormusik

Der Helsinki Chamber Choir im Brixner Dom: Eine fromme, aber auch eine jubilierende A Cappella-Musik, wohlriechend wie der Dunst brennender Kerzen in Wolken von Weihrauch.

Wohl selten hat ein spirituelles Konzert tiefer und schmerzlicher den Nerv der Zeit berührt wie dieses. Der Helsinki Chamber Choir unter der Leitung von Nils Schweckendiek führte in Meran und Brixen Rachmaninoffs „Chrysostomos-Liturgie“ auf.

Von Hubert Stuppner

Von „Musik Meran“ und „Musik und Kirche Brixen“ vermittelt, konnte vergangenen Sonntag und Montag ein zahlreiches Publikum als Einstimmung auf die Karwoche eine Sternstunde sakraler Chormusik erleben. Zu Gast war mit Rachmaninoffs einstündiger „Chrysostomos-Liturgie“ einer der besten europäischen Chöre, der „Helsinki Chamber Choir“ unter Leitung von Nils Schweckendiek. Es war Musik mit einem langen Atem, inbrünstig und inwendig voller Figur, eine Musik „Aus der Tiefe ruf ich, Herr, zu dir!“, eine, die den Kirchenraum mit weit gespannten Melodiebögen füllt und mit farbigen Harmonien gleichsam flutet. Eine fromme, aber auch eine jubilierende A Cappella-Musik, wohlriechend wie der Dunst brennender Kerzen in Wolken von Weihrauch.

Laut einer Legende schickte einst der Großfürst Wladimir von Kiew Gesandte aus, um herauszufinden, welche die richtige Religion sei. Zunächst reisten die Weisen gen Westen und hörten sich in Synagogen und katholischen Kirchen um. Am Ende der Reise besuchten sie 988, am Weihnachtstag, die Hagia Sophia in Byzanz und  lauschten unter den goldenen Ikonen den Mönchen, deren einstimmiger Gesang und geheimnisvolles Gemurmel beim Beten sie sosehr berührte, dass sie ihrem Herrscher begeistert berichteten: „Wir wussten nicht, waren wir im Himmel oder auf Erden. Denn auf der Erde gibt es einen solchen Anblick und eine solche Schönheit nicht. Wir vermögen es nicht zu beschreiben. Nur das wissen wir, dass Gott dort bei den Menschen weilt.“ Wladimir der Heilige soll vom Bericht seiner Gesandten so beeindruckt gewesen sein, dass er sich taufen ließ und im gesamten Kiewer Reich orthodoxe Kirchen und Klöster errichten hieß.

Wenn slawische und griechische Christen beten, dann singen sie. Im alten orthodoxen Gottesdienst ging der Gesang von einer antiken philosophischen Losung aus, nämlich „das Wahre ist auch das Schöne und das Schöne ist das Wahre“. Zu dessen Entfaltung bedurfte es der Tiefe des Raumes, der Resonanz, der Ikonen und der Poetik der Texte. Jede Melodie war eng mit einem Text verbunden: Man lernte ihn auswendig, indem man die Worte ständig wiederholte und dabei zu singen begann.

In seinen Erinnerungen erzählt Rachmaninoff, dass er als Kind in Nowgorod an den hohen Feiertagen an der Hand seiner gläubigen Großmutter in die Messe geleitet und vom mächtigen Klang der Glocken tief berührt wurde, Glocken, die auf den orthodoxen Kirchtürmen nicht wie bei uns „zusammen läuten“, sondern mit großen Knüppeln nach ausgesuchten, auf die Festlichkeiten abgestimmten Motiven angeschlagen werden und die Kirchgänger auf das Fest emotional einstimmen. Reminiszenzen finden sich in Rachmaninoffs Opus 35, „Die Glocken“, und im Klavier-Solo am Beginn des Zweiten Klavierkonzerts. In einem Interview hat er später im Westen bekannt, dass ihn das russische Volkslied und der russische Kirchengesang zu vielen seine Werke inspiriert habe und dass er auch noch in Moskau vom allgegenwärtigen Gebimmel der Dome hingerissen war. Er zitierte dabei ein Gedicht von Lermontow „Kaum erwacht in Moskau der Tag, da ertönt schon von allen seinen goldbehelmten Kirchtürmen die harmonische Hymnen der Glocken“ In diesen Tonsilhouetten, meint Lermontow, „hörst du das tiefe Brummen des Kontrabasses, das Dröhnen der Pauke und das Jubilieren von Geige und Flöte.“

Obwohl Rachmaninoff nicht praktizierender Christ war, besuchte er bereits als 18-Jähriger beim Chorleiter Stapan Smolenskij Vorlesungen über die Geschichte der russischen Kirchenmusik. In der Ausführung des innerlich Gehörten und Imaginierte komponierte er in Sakralwerken auch den besonderen Nachhall mit, der den Innenraum der orthodoxen Kirchen auszeichnete. In diesen standen die Sänger leicht erhöht auf Podesten links und rechts der „Ikonostase“, der mit Ikonen geschmückten Wand. Den zunehmend größer werdenden Chören boten außerdem die Galerien und Balkone im Oberrang größerer Kirchen die Möglichkeit, sie als Chorempore zu nutzen und ein zusätzliches Echo zu erzeugen.

1904 wurde Rachmaninoffs Studienkollege Nikolaj Danilin zum Leiter des Moskauer Synodalchores ernannt, Russlands ältestem professionellem Musikensemble. 1910 bat dieser nun Rachmaninoff, zum 200 hundertjährigen Bestehen des 80-köpfigen Chores um eine Komposition. Dabei mag Rachmaninoff wohl auch die Herausforderung gereizt haben, seinem Vorbild Tschaikowsky, der vor ihm den Text vertont hatte, etwas Vergleichbares an die Seite zu stellen Nach der Fertigstellung der Komposition gestand er seinem Freund Danilin, dass er „schon lange nicht mehr ein Werk mit einem solchen Vergnügen geschrieben habe“, wie dieses Opus 31.

Das Werk wurde 1920, als Rachmaninoff schon im Westen war, unter Nicolai Danilin zum letzten Mal in der Moskauer „Kirche des Großmeisters Georgi“ aufgeführt. Das ging noch mit Lenin, denn nach ihm ließ Stalin zahlreiche Kirchen schleifen. Danach wurde die orthodoxe Kirche mit dem kommunistischen Staat gleichgeschaltet und alle Patriarchen von Staats wegen in den KGB eingegliedert.

Nach Beginn des Überfalls auf die Ukraine hat „Seine Heiligkeit der Patriarch Kyrilll von Moskau und ganz Russland“, in der Militärkirche außerhalb Moskau, Putins Krieg als „ein Wunder Gottes“ gepriesen.

Wohl selten hat ein spirituelles Konzert tiefer und schmerzlicher den Nerv der Zeit berührt wie dieses. Während der „Apokalyptischen Reiter“ aus dem orthodoxen Russland in die westliche friedliche Welt einbricht und die urorthodoxen Kirchen und Klöster des legendären heiligen Fürsten Wladimir bombardiert und verwüstet. Paradox auch, dass ausgerechnet ein unseliger gleichgeschalteter Patriarch, der selbst früher ein KGB-Funktionär war, die Verbrechen legitimiert und damit der alten Gleichung von Karl Marx „Religion ist gleich Opium für das Volk“ eine schauerliche Aktualität verleiht.

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