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Der pianistische „Stein der Weisen“

Maurizio Pollini am 3. September 2020 im Gustav Mahler Saal in Toblach: Zwei Konzerte, die er noch souverän, wenngleich höchst nervös, meisterte. (Fot0: MJM (Max) Verdoes)

Maurizio Pollini, der Garant des makellosen klassischen Klavierspiels, ist tot. Ein Nachruf von Hubert Stuppner.

Mit Maurizio Pollini schließt sich die von Busoni eingeleitete und von Benedetti- Michelangeli vollendete Suche nach einem lupenreinen apollinischen Stil, der von technischer Souveränität geleitet, den Wohlklang als höchstes Ziel von Virtuosität anstrebte. Nach dem Warschauer Triumph im Chopin Wettbewerb blieb Pollini über viele Jahre der „Arbiter elegantiae“ im klassischen Repertoire. Als man in der neuen deutschen Hauptstadt Berlin den ganzen Beethoven plante, holte man sich ihn als alleinigen Interpreten, und als Abbado mit dem Chicago-Symphony Orchestra die zwei ersten Bartok-Konzerte aufnahm, die Pollini schon vorher mit Boulez und der New York-Philharmonic gespielt hatte, wurden diese als Jahrhundert-Einspielung gewertet.

Im Umkreis der links gerichteten Associazione von Reggio Emilia „Musica/Realtà“, verband Pollini überdies eine enge ästhetische und politische Freundschaft mit Nono und Abbado, die 1968 in einem Arbeiter-Klavier-Konzert für die Belegschaft der Italsider-Fabrik gipfelte. Nicht minder aufgeschlossen war Pollini der Avantgarde gegenüber. Als einziger der arrivierten Pianisten spielte er Seite an Seite die Zweite Sonate von Boulez und Stockhausens „Klavierstück X“

Pollini war mit seinem Vorbild Michelangeli, bei dem er sich in den Kursen von Schloss Paschbach (Eppan) und Arezzo die vollkommensten Triller und den sanftesten Tastendruck beibringen ließ, wesensverwandt. Beide, im Zeichen des Steinbocks geboren, zeichnete die faustische Suche nach dem pianistischen „Stein der Weisen“ aus, die sich in der kompromisslosen Forderung an die Klavierstimmer und in der alchimistischen Suche nach dem idealen Klang im Raum äußerte. Dazu die künstlerische Integrität in Ausübung von Werktreue. Dieser zielgerichtete Ernst, gepaart mit Ehrgeiz und Unnahbarkeit, äußerte sich bei beiden schon sehr früh. Michelangeli verwandelte die Niederlage beim Brüsseler Wettbewerb 1936 im darauffolgenden Jahr in Genf in seinen Triumph. Pollini soll sich in Genf, als ihm 1957 die um ein Jahr ältere Martha Argerich den Rang ablief, einen Tag lang im Zimmer eingeschlossen und beschlossen haben, in den nächsten Wettbewerben nie mehr nur Zweiter zu werden, was er 1960 im Chopin-Wettbewerb in Warschau eindrucksvoll unter Beweis stellte.

Beide, Michelangeli und Pollini, maßen sich lebenslang mit den Achttausendendern der klassischen Klavierliteratur und wurden nicht müde, die musikalischen Gipfel bis zur Erschöpfung zu besteigen. Michelangeli konzertierte, bis sein Herz nachgab. Pollini konnte ich 2020, als er bereits von der Krankheit gezeichnet war, für einen Auftritt in Toblach gewinnen, und ihm sogar, angesichts der Platzbeschränkung wegen der Pandemie, ein weiteres Konzert als Wohltätigkeitskonzert abringen. Konzerte, die er noch souverän, wenngleich höchst nervös, meisterte.

Den Willen zum Durchhalten bis zum Letzten stellte er noch einmal vor einem Jahr in der bis zum letzten Platz gefüllten Londoner „Royal Festival Hall“ unter Beweis, in dem er sich – allerdings das erste Mal in seiner Konzertlaufbahn – geschlagen geben musste. Ähnlich wie Wilhelm Backhaus, dem der Tod mitten im Konzert die Hände von den Tasten nahm, musste Pollini zur Kenntnis nehmen, dass seine Zeit unwiderruflich vorbei war. Er sollte laut Programm u.a. Schumanns anspruchsvolle „Fantasie in C Dur“ vortragen, spielte aber etwas ganz anderes, bis er am Geräusch aus dem Publikum merkte, dass er das falsche Stück spielte. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, stand auf und trat ab. Doch er kam kurz darauf mit Noten unter dem Arm wieder und begann von vorne, indem er sich selbst umblätterte, was seine Nervosität nur noch schlimmer machte und die gerissenen Blätter geräuschvoll zu Boden fallen ließ. Was nach einer weiteren Unterbrechung die Zuhilfenahme eines Assistenten erforderte und es Pollini erlaubte, mit zahlreichen Unzulänglichkeiten das Konzert zu Ende zu bringen. Das Publikum war teils aus Mitgefühl für das Scheitern, teils aus Bewunderung für die Hartnäckigkeit tief ergriffen und applaudierte mit standing ovations. Es spürte, dass es für Sterbliche wohl nichts Erhabeneres gibt, als wenn Sisyphos fällt, sich erhebt und gegen das Unausweichliche revoltiert.

Weniger bekannt sind Pollinis zweimalige Auftritte in Bozen. Für die Ausgabe des Wettbewerbes 1958 hatte man auch einen Kompositionswettbewerb für neue Solo-Klavierstücke ausgeschrieben. Da die Juroren jedoch nur teilweise in der Lage waren, die unbekannten neuen Werke zu entziffern, suchte man nach einem Korrepetitor, der diese Stücke vorspielte.

Da war einer der italienischen Juroren, der Mailänder Pianist Carlo Vidusso, nicht verlegen und brachte seinen Schüler Maurizio Pollini ins Spiel, der obwohl erst 16-jährig für seine Gabe beim Prima vista-Spielen bekannt war. Pollini wurde gerufen und verrichtete glänzend das Vorspiel. Zum Wettbewerb selbst konnte er auf Grund der fehlenden Jahre nicht zugelassen werden. Dafür wurde er vom Bozner Konzertverein im Februar 1959 mit einem Konzertverein-Rezital honoriert, in dessen Verlauf er sämtliche Konzertetüden von Chopin zum Besten gab.

Die italienische Presse ignorierte Pollinis Auftritt und der Kritiker der „Dolomiten“, Rudolf Oberpertinger, bemerkte eher beiläufig, „das Konzert möge Ansporn sein zu weiterem ernsthaften Studium“. Der „Ansporn“, der ein Jahr darauf 1960 zum sensationellen Sieg eines 18-Jährigen im Chopin – Wettbewerb von Warschau führte, strafte die Zweifler Lügen und begründete Pollinis Weltkarriere.

Maurizio Pollini starb am 23. März im Alter von 82 Jahren in seiner Heimatstadt Mailand.

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