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Suche nach dem Mutternichts

Christine Vescoli: Wo ist man, wenn man in „sich verschwindet“?

Das überflüssige Kind: Der große Debütroman von Christine Vescoli.

Von Elmar Locher

Mit einem Doppelbild setzt  die Ich-Erzählerin den Beginn  ihrer Suchbewegungen nach dem Mutternichts: „Mutter schlug die Augen nieder, wenn sie nachdachte und in sich verschwand. Sie schaute in einen Punkt, der im Boden lag. Irgendwo war er immer. Manchmal lag er auf dem Tisch. Dann zogen ihre Finger langsam darüber und zeichneten unsichtbare Linien in das gebügelte Tischtuchleinen.“ Diesen unsichtbaren Schriftzügen folgt die Erzählerin. Sichtbar zu machen gilt es Unsichtbares, sagbar in die Sprache zu führen Unsagbares. Doch mit diesen Anfangszeilen ist schon, freilich erst nach dem Tod der Mutter, ein Verbot gebrochen, von dem die Tochter annimmt, die Mutter hätte das Verdikt erlassen: das Schreibverbot. Sie müsste sie fragen, warum sie ihr mit ihrer Angst das Schreiben verboten hat. Sie fragt aber nicht. Darüber wird geschwiegen. In einer Geschichte will sie erfahren, „warum ich mir die Sprache aus dem Gesicht wischen musste, in das du dich hineingeschrieben hast, sodass man dich in mir sah […].“

Einiges muss im Nachschreiben dieser Tischtuchleinenschrift rekonstruiert werden, durch die Erzählung der älteren Schwester der Mutter und deren Dokumente, anderes kann nur durch die eigene Vorstellungskraft aufgefüllt werden: „Dann stelle ich mir vor, ist Jakob in ihr Leben gekommen«, zu Anna, der Urgroßmutter der Erzählerin. Er kommt aus diesem Leben wieder fort, er wird tot in einem Bach gefunden, umgekommen durch Unfall oder durch ein willentliches aus dem Leben Scheiden, man weiß es nicht. Beider Leben „zwei Striche, die sich kreuzten und dann weiter und weiter weg, jeder in seine Richtung liefen. Jakob fand einen Bach und ging. Als es ihn nicht mehr gab, konnte sie manchmal mit ihm reden.“

Es gibt das Material der Erzählungen, die Fotos, einige Bücher, wenige Zeitungsausschnitte. Es fehlen aber Ordnungskriterien, es fehlt der Rahmen, es fehlt die Methode, nach der geschrieben werden könnte: „Nichts davon habe ich. Aber den Schmerz, der mich aufjagt und vor sich hertreibt. Er scheucht mich vor die Haustür und peitscht mich gebuckelt durch den Garten.“ Einiges ist durch Tatsachen gegeben: „Zunächst sachlich, wie ein Bericht es tut. Er schreibt nieder, was gewesen ist. Tatsachen. Seine Sache stimmt“. Beispielsweise: „Dass wir nie ineinander eingehängt durch die Straßen gingen, weil ihre Schritte kürzer waren als meine und wir keinen Takt fanden, in dem wir uns hätten treffen können.“ Mutter und Tochter im Nebeneinander, nach dem Miteinander muss gesucht werden und stellt sich erst in der Schrift ein als nachgetragene Liebe.

Doch, wo ist man, wenn man in „sich verschwindet“? Ein Ich schwindet, gibt sich weg, verliert sich, wird klein und kleiner und findet sich bloß noch als Buchstabenfolge eines Rückbezuges wieder im sich:  Ein Nichts in keinem Da.

Zum ersten Mal verschwindet die Mutter im Alter von vier Jahren aus der Familie, sie wird zur Schwester des Vaters gegeben, mit acht verschwindet sie erneut, kommt in eine andere Familie. Sie verschwindet in den Liedern, die sie gegen die Angst singt, wenn sie vom fremden Haus ins Elternhaus geht, um nach kurzem Besuch wieder zurück zu müssen in die Dunkelheit, Gedichte rezitierend, die sie liebt. Von diesem Singen erzählt die Mutter immer wieder, nicht von der Arbeit als Dirn auf dem Hof, als sie noch Kind war. Letztere wird verschwiegen, zugedeckt und ausgeblendet. Sehr viel später dann, wenn sie mit ihrer Familie wieder ins Tal ihrer Herkunft kommt, verschwindet sie am Taleingang in die Sprache des Tales und der Kindheit. Sie entzieht sich. Fremd blieb ihr die Sprache des Mannes und dessen Name, der italienische, zu dem sie durch Heirat kam, und den er auf der Zunge trug wie andere ihr Herz. Und dann doch das Widerständische anlässlich eines Krankenhausbesuches, schon wissend, dass nun der Tod der neue ungebetene Gast im Hause ist, mit dem sie durchs Haus geht, ihm dies und das zeigt, dies und das vorenthält. Sie […] „hieß ihn Dosen aus den Regalen holen und das Gemüse abwiegen, hieß ihn ein Lieblingsessen aussuchen, damit er nicht immer nur an ihr leckte und die Kilos von ihrem Körper nagte “.

„Nein, noch gehe ich nicht. Ein bisschen Zeit habe ich noch.“

Sie verschwindet in ihre Ordnung, die freilich ganz eigenen Gesetzen gehorcht, nachdem sie Ordnungen auseinander genommen hatte. So bleibt auch manches liegen, der Staub auf der Lampe, der Schmutz in der Kehrichtschaufel, in ihr der Besen aus Reisstroh.

Mutter: Ein Nichts, und dieses Nichts wird das Leben bestimmen.

Und an dieser Stelle kommt es zu einer frappierenden Knüpfung. Das Reisstroh deckt den Schmutz zu „wie der blaue Mantel den Bauch der schwangeren Muttergottes“. Der Mantel ist nur einen schmalen Spalt weit geöffnet, in den die Madonna ihre Finger legt. Es ist die Madonna del parto von Piero della Francesca: „Die Muttergottes eine Königin. Groß und unnahbar schön. Sie schaut herab, gelassen und majestätisch, wissend, dass unter ihrem Mantel aus dem Ursprung der Welt, auf den sie ihre gekrümmten Finger hält, die Erlösung des leidenden Menschen schlüpft.“ Dieser unglaublichen Knüpfung, die Schmutz und Geburt des Gottessohnes in eine Konstellation führt, sind mindestens zwei Subtexte eingeschrieben. Da ist zum einen die Auffassung der katholischen Kirche, die noch in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach der Geburt die Aussegnung der Gebärenden verlangte, benedictio mulieris post partum, da sie durch die Geburt unrein ist. Da öffnet sich der Text zum anderen durch die nicht markierte Wortfolge Ursprung der Welt auf das Bild Lʼorigine du monde von Gustave Courbet aus dem Jahre 1866. Das Bild zeigt in Nahsicht die behaarte Vulva einer liegenden nackten Frau. Nach verschiedenen Peripetien kommt das Bild in den Besitz von Jacques Lacan. Dieser bittet seinerseits seinen Schwager André Masson um eine Arbeit, die den liegenden Akt verdeckt. Jacques Lacan! So ist das Bild Courbets da und doch nicht da, entzogen nicht nur den Blicken der Besucher, entzogen auch seinem eigenen. Und an einer anderen Stelle rettet der Text ein beinahe schon in Vergessenheit geratenes Wort, das im BeinaheGleichklang als größter Ordnung nur durch die Substitution des einen Phonems seit dem 17. Jahrhundert die größte Unordnung signalisiert: Kribeskrabes, kribbes krabbes, ein Mischmasch.

Sie verschwindet in die Gebete, sie entzieht sich, wird unerreichbar. In die Gebete war freilich auch schon der Großvater der Erzählerin versunken. Mit ihm teilt sie als Kind in den Ferien die Kammer. Sie will ganz Jesus gehören und hatte sich als Kind dessen Wundmale gewünscht. Anders ist es mit Gott, denn der ist überall und sieht und hört alles. Aber Jesus bittet sie, er möchte doch an ihrer Stelle mit Gott sprechen: „Also redete ich wieder mit Jesus. Er war ja der Gottessohn und also nicht weit weg von seinem allmächtigen Vater. So hoffte ich insgeheim, dass meine Jesussprache doch irgendwie zu Gott gelangen sollte.“

Von Karfreitag bis Ostersonntag trägt die Mutter das Leiden Christi: „Und am Ostersonntag machte sich Mutter festlich und war wieder froh. Ich war Gott dankbar für die Auferstehung seines Sohnes. Da war Mutters Stille mit Gott nicht mehr so undurchdringlich.“ Die Mutter verschwindet in Hiob, hadert mit ihm, verzeiht ihm nicht, dass er am Ende nicht mehr mit Gott hadert. Eine Zeile aus dem Buche Hiob wird dann auf dem Sterbebildchen stehen: „Bisher kannte ich dich vom Hörensagen, doch jetzt habe ich dich mit eigenen Augen gesehen.“ Doch: „Mutters Hiob, wer war er, was war er? Sie kannte ihn, als wäre sie ein Buchstabe in seinem Namen. Hiob, der schuldlos Bestrafte. Sie, das schuldlos weggegebene, überflüssige Kind.“ Da scheint das Mutternichts gefunden. Mutter: Ein Nichts, und dieses Nichts wird das Leben bestimmen.

Und am Ende, das letzte Weggehen ins Sterben, bis der Tod durch Krebs, die letzte Schwundstufe, erreicht ist. Da noch die Angst, sie könnte den eigenen Tod versäumt haben. Doch kurz vor dem Tod setzt die Mutter zu einem Satz an, der schon fertig in ihrem Kopf liegt und der die Erklärung liefern könnte. Der Satz aber wird nicht zu Ende gesprochen, ein Klopfen, das einen Besuch ankündigt, verhindert ihn: „Aber wir, die vom Bruggerhäusl … “

Christine Vescoli: Mutternichts. Otto Müller Verlag, Salzburg, 180 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.

 

Lesung und Gespräch mit Christine Vescoli

Christine Vescoli stellt ihren Debutroman im Gespräch mit Katrin Hillgruber heute in der Landesbibliothek Dr. Friedrich Teßmann vor.

Das Nichts war zeitlebens im Rücken der Mutter, war allumfassend und doch nie greifbar. Nach dem Tod der Mutter fragt die Tochter sich, ob sie nun endlich sehen kann, was die Mutter hinter sich verborgen und worüber sie geschwiegen hat. Ihr bleiben nur wenige Erzählungen, geflüsterte Erinnerungen, ein paar Fotos und Zeitungsausschnitte, um einer Kindheit voller Härte und Kälte auf einem fremden Hof in einem Südtiroler Seitental nachzuspüren. Wer also war sie? Die Erzählerin nähert sich Schritt für Schritt dem Leben der Mutter an, stets hinterfragend, ob es so gewesen sein könnte oder ob sie mittels ihrer Sprache eine bereits vorgeformte Wirklichkeit schafft, die sich mit der Wahrheit der Mutter nicht deckt.
„Mutternichts“ ist ein kraftvoll-poetisches Debüt. Christine Vescoli nimmt darin etwas so Altmodisches wie Gegenwärtiges neu in den Blick: die Liebesbeziehung zwischen Mutter und Tochter.

„Ihr ‚Mutternichts‘ ist ganz und gar einzigartig. Oft verstörend, klagend, anklagend wird ihre Sicht auf die Mutter zu großer Literatur. Es ist wunderbar, eigenwillig, bohrend und schweifend zugleich – und das Beste daran ist: dass es so total anders ist als das, was im Moment grad geschrieben wird. Großartig, überraschend, traurig und mutig, auf jeder Seite voller Einblicke – und sehr schön.“ Michael Krüger (Schriftsteller, Verleger und Übersetzer).

Christine Vescoli, geboren in Bozen, Studium der Deutschen Literatur und Kunstgeschichte in Wien. Tätigkeit im Lektorat und Unterricht an Gymnasien sowie als Publizistin mit Literaturkritiken für die „Neue Südtiroler Tageszeitung“. Seit 2009 Leiterin von Literatur Lana und Kuratorin der Literaturtage Lana.

Termin: 29.Februar um 20 Uhr in der Landesbibliothek Dr. Friedrich Teßmann. Das Gespräch mit der Autorin führt Katrin Hillgruber, freie Journalistin und Literaturkritikerin in München.

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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