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„Wie die Jungfrau zum Kind“

Cuno Tarfusser hat mit seinem Revisionsantrag einen der spektakulärsten Kriminalfälle der italienischen Kriminalgeschichte faktisch neu aufgerollt – und genießt jetzt seine Wiederauferstehung als Popstar der Justiz.

TAGESZEITUNG: Herr Tarfusser, wie kamen Sie zum Fall des Massakers von Erba?

Cuno Tarfusser (lacht): Wie die Jungfrau zum Kind.

Nämlich?

Irgendwann im Herbst 2022 kam ein Anwalt namens Paolo Sevesi hier in Mailand zu mir ins Büro, um mit mir über einen gerichtlichen Vergleich zu sprechen. Er bot mir an, seine Berufung zurückzuziehen, falls ich im Gegenzug einer Herabsetzung des Strafausmaßes von 10 auf 8 Jahren zustimmen würde. Ich hatte die Akten des betreffenden Falles sehr genau studiert und habe zum Anwalt gesagt, dass ich zu der Überzeugung gelangt sei, dass man in diesem Fall – weil die Beweislage alles andere als klar war – sogar zu einem Freispruch gelangen könnte. So kam es dann auch …

Was hat dieser Fall mit dem Fall von Erba zu tun?

Dieser Anwalt hat verstanden, dass ich kein Staatsanwalt bin, der einfach nur anklagt, der auf Biegen und Brechen Anklage erheben will. Als wir uns Wochen später zufällig wieder trafen, fragte er mich, was ich über den Fall von Erba denke. Ich antwortete, dass ich den Fall nur aus der Presse kenne. Er empfahl mir ein Buch zu diesem Fall …

… das Buch von Felice Manti und Edoardo Montolli, in dem die Autoren wirklich haarsträubende Ermittlungsfehler und die vielen Widersprüche aufdecken …

Richtig. Ich fange dann an, dieses Buch, das sehr gut dokumentiert ist, zu lesen und denke mir: Das könnte ein Oberhofer-Buch sein (lacht) …

Danke für die Blumen. 

Ich lese und lese. Und je weiter ich mich in diesen Fall hineinlese, denke ich mir: Ca…o, wenn das alles wahr ist, was in diesem Buch steht, dann sind diese zwei Personen hundertprozentig nicht schuldig. Ich bekam dann einen USB-Stick mit den wichtigsten Akten und komme beim Studium dieses Fall auf Sachen drauf, die nicht einmal den Buchautoren oder den Verteidigern aufgefallen sind, weil ich den Fall eben durch eine andere Brille, durch die Brille des Staatsanwaltes sehe. Wissen Sie, was mich am meisten erschreckt hat?

Sie sagen es uns.

Die Tatsache, dass vier Staatsanwälte eine Analphabetin verhören. So etwas kann und darf nicht sein! Wenn ich Chefstaatsanwalt wäre, würde ich so etwas nie zulassen. Das ist nicht korrekt! Man kann auf einen Beschuldigten Druck aufbauen, das verstehe ich schon. Aber im Fall einer Analphabetin ist das nicht korrekt, man kann eine Analphabetin, die sich nur schwach verteidigen kann, nicht auf Vollgas verhören. Die zweite Sache, die mich stutzig gemacht hat: Die Ermittlungen in diesem Fall hat der Maresciallo der Carabinieri-Station von Erba geleitet, der seit 30 Jahren Maresciallo war. Dieser Maresciallo hätte, wenn ich die Ermittlungen geleitet hätte, nur den Verkehr regeln dürfen …

Warum?

Natürlich hätte ich den Maresciallo auch befragt. Aber die Stationskommandanten sind Leute, die alle und alles kennen. Zumindest glauben sie das. Aber die Ermittlungen in so einem Fall müssen von einer Spezialeinheit geführt werden.

Tatsächlich hat dieser Maresciallo – wie auch die „Iene“ in einer vielbeachteten, vierstündigen Doku belegt haben – unglaubliche Ermittlungsschritte gesetzt, alle zum Nachteil von Olindo und Rosa …

Richtig, so ein Mann darf nie eine so delikate Ermittlung leiten.

Ein Fixpunkt in diesem Fall ist auch die erste Aussage des einzigen Überlebenden Frigerio, der in seiner Einvernahme am Krankenbett erklärt hat, der Täter habe eine olivgrüne Hautfarbe und dichtes, kurzes und krauses Haar gehabt …

Ja, und er hat gesagt, der Täter habe sein Opfer „sgozzato come le capre“.

Warum hat Frigerio später im Prozess Olindo und Rosa als Täter genannt?

Zur Identifizierung ist es tatsächlich erst im Prozess gekommen. Neurowissenschaftler, die jetzt in der Revision neue Gutachten vorlegen, kommen zu dem Schluss, dass es sich bei Frigerios Aussage im Prozess um eine falsche Erinnerung, um eine konstruierte Falscherkennung handelt.

Und der Blutfleck am unteren Türbogen auf der Fahrerseite des Autos von Olindo Romano?

Das ist ein weiterer Punkt, der unglaublich ist: Diesen Blutfleck, der dem Mordopfer Valeria Cherubini zugeordnet wurde, entdeckt man 15 Tage nach der Tat, nachdem Olindo und Rosa das Auto immer benutzt hatten. Das Auto war nämlich nie beschlagnahmt worden. Außerdem ist diese Spur fotografisch nie dokumentiert worden.

Es könnte also auch sein, dass einer der Carabinieri-Beamten die Blutspur, die dem Mordopfer Valeria Cherubini zugeordnet wurde, vom Tatort zum Auto getragen und dort hinterlassen hat?

Eine Kontaminierung ist sehr wahrscheinlich. Auch zu diesem entscheidenden Punkt gibt es ein neues Gutachten. Ich sage nur: Dass man eine Spur, die Blutspur, die nicht dokumentiert ist, als Beweis hernimmt, ist schon allerhand. Aufgrund solcher Beweise kann man einen Menschen nicht zu lebenslanger Haft verurteilen.

Hinzu kommt, dass in der Wohnung, wo sogar die Abflüsse, die Waschmaschinenschläuche usw. kontrolliert wurden, und an den Kleidern der Beschuldigten nicht eine einzige Blut- oder andere Spur entdeckt wird, was bei einem Massaker dieses Ausmaßes schon bemerkenswert ist …

Ja, das ging sogar so weit, dass die Spurentechniker der Sondereinheit RIS sich fast dafür entschuldigt haben, dass sie nichts finden konnten.

Olindo und Rosa haben nicht sofort gestanden …

Nein, in den ersten beiden Verhören am 8. Jänner haben sie angegeben, sie hätten mit der Tat nichts zu tun. Sie haben erst zwei Tage später, nachdem sie 48 Stunden lang im Gefängnis gesessen haben, die Tat zugegeben, wobei Olindo versucht hat, seine Frau zu retten und umgekehrt. Ihnen wurde– und das war nicht feine englische Art – jeweils gesagt, dass der bzw. die andere bereits gestanden habe.

Ihnen wurde auch gesagt, dass sie im Gefängnis zusammenbleiben könnten, falls sie gestehen. Im gegenteiligen Fall würde sie sich nie wieder sehen …

Richtig. Wenn das Gesetz besagt, dass jemand nur verurteilt werden kann, wenn es keine begründeten Zweifel an der Schuld gibt, kann es in diesem konkreten Fall keinen Schuldspruch geben. Denn in diesem Fall gibt es mehr als nur berechtigte Zweifel. Aber das allein reicht noch nicht für ein Revisionsverfahren …

Warum?

Weil ich, um eine Revision zu erwirken, neue Beweise vorlegen muss.

Worin bestehen diese neuen Beweise? 

Es gibt eine ganze Reihe von neuen Gutachten von renommiertenWissenschaftlern und Professoren im forensischen Bereich zu den abgehörten Gesprächen, zu den Blutspuren, zur Tatdynamik und vielen anderen technischen Aspekten. Während die Juristerei im Mittelalter stehengeblieben ist, haben Technik und Wissenschaft in den vergangenen 15 Jahre große Fortschritte gemacht.

Für den Fall Olindo und Rosa heißt das?

Das heißt, dass mit den neuen Fakten und Gutachten die ohnehin bereits dürftige Beweislage noch viel schwächer wird. Diese neuen Fakten sind so umfangreich und bedeutend, dass ich sage: Es braucht einen neuen Prozess, um diese völlig neuen und bedeutenden Erkenntnisse zu bewerten.

Herr Dr. Tarfusser, Sie haben den Revisionsantrag ohne das Wissen Ihrer Vorgesetzten nach Brescia übermittelt. Haben Sie Ihre Chefin, die inzwischen sogar ein Disziplinarverfahren gegen Sie eingeleitet hat, umgangen?

Nein, habe ich nicht! Ich habe den Antrag auf ein Revisionsverfahren am 31. März dieses Jahres im Sekretariat unserer Generalstaatsanwaltschaft hier in Mailand hinterlegt. Eine Woche vorher habe ich meiner Vorgesetzten eine E-Mail geschrieben und ihr berichtet, dass ich in einer sehr delikaten Sache, an der ich bereits seit Monaten arbeite, mit ihr reden müsse. Ich habe geschrieben, es sei dringend.

Warum dringend?

Weil ich über verschiedene Ecken erfahren hatte, dass die Sendung „Le Iene“ am Sonntag, den 2. April, eine Dokumentation zum Fall von Erba ausstrahlt. Um dem Vorwurf zu entgehen, die Staatsanwaltschaft würde immer erst dann aktiv werden, wenn eine Zeitung oder ein Fernsehsender über einen Fall berichten, wollte ich vermeiden, dass das Fernsehen vor uns aktiv wird. Ich wollte also die Gerichtsbarkeit schützen. Ich habe eine Woche lang auf eine Antwort meiner Vorgesetzten gewartet und dann, nachdem keine Antwort gekommen ist, am 31. März den Antrag hinterlegt.

Ihre Vorgesetzte Francesca Nanni hat das nicht goutiert …

Ich stelle meine Professionalität über die persönlichen Befindlichkeiten.

In Interviews hat Ihre Vorgesetzte jetzt gesagt, dass sie es gut findet, dass der Prozess neu aufgerollt wird …

No comment.

Empfinden Sie Genugtuung?

Ja, ich blühe auf, ich empfinde eine große persönliche und berufliche Genugtuung. Es geht hier nicht um meine Vorgesetzte und mich, es geht darum, dass zwei Menschen seit 17 Jahren im Gefängnis sitzen, ohne dass hieb- und stichfeste Beweise gegen sie vorliegen. Punkt.

Olindo und Rosa sind unschuldig? 

Ich verwende nie den Begriff: unschuldig. Das ist keine juristische Kategorie. Ich sage: Die vorgelegten Beweise sind völlig unzulänglich, um eine lebenslange Haftstrafe zu rechtfertigen.

Die nationalen Medien haben sich auf Sie gestürzt, als Ihr Antrag angenommen wurde, Sie sind, wie früher, wieder ein Popstar der Justiz …

Das baut mich auf. Ehrlich, das hat wohlgetan, das war Balsam … Schließlich hat man in den vergangenen zweieinhalb Jahren Strafverfahren gegen mich angestrengt … Aber reden wir nicht darüber.

Am 8. Februar findet das Disziplinarverfahren statt, das Ihre Chefin gegen Sie angestrengt hat. Wie gehen Sie jetzt in dieses Verfahren?

Das sage ich Ihnen danach (lacht).

Sie sind gelassen?

Ich war vorher absolut gelassen, jetzt bin ich noch gelassener.

Waren Sie eigentlich zuversichtlich, dass Ihr Revisionsantrag angenommen wird?

 Recht haben und Recht kriegen sind zwei verschiedene Ebenen. Ich war vorsichtig optimistisch, weil ich die Akten intensiv studiert habe …

Viele nationale Medien sind hingegen von der Schuld von Olindo und Rosa überzeugt und belächeln Sie und Ihren Antrag …

 Jetzt reden jene, die die Akten nie studiert haben. Ich lese die Berichte nicht, weil ein Prozess ist kein Fußballspiel zwischen Inter und Milan, sondern eine seriöse Sache. Die Entscheidung liegt jetzt bei den Richtern in Brescia, die werden ihre Arbeit machen. Ich denke, dass man nach 17 Jahren die ganze Sache mit einer gewissen Distanz besser bewerten kann. Wir wissen alle, wie groß der öffentliche Druck vor 17 Jahren war.

Die Ironie des Schicksals will, dass in Brescia ihr „Erzfeind“ Guido Rispoli als Generalstaatsanwalt den Fall auf den Tisch bekommt …

(lacht) Das ist lustig, oder?

Interview: Artur Oberhofer

Der Blutrausch

Das „Massaker von Erba“ hat im Jahr 2006 für großes Entsetzen gesorgt. Die Spurenlage im Fall ist mehr als dürftig.

(arob) Am Abend des 11. Dezember 2006 wird die Feuerwehr in dem Weiler Erba am Comer See zu einem Hausbrand gerufen. In einer der ausgebrannten Wohnungen werden drei Leichen gefunden: Raffaela Castagna (30), ihr zweijähriger Sohn Youssef Marzouk sowie ihre Mutter Paola Galli (60) wurden brutal zusammengeschlagen und dann mit unzähligen Messerstichen ermordet. Auch zwei Nachbarn werden mit Messern angegriffen.

Die 55-jährige Valeria Cherubini stirbt wenig später im Krankenhaus, während ihr Mann Mario Frigerio (65), der ebenfalls mit einer Schnittwunde am Hals aufgefunden wird, als einziger schwer verletzt die Tat überlebt.

Die Ermittlungen konzentrieren sich anfänglich auf den Ehemann von Raffaela Castagna, Azouz Marzouk, der wegen Drogenhandels vorbestraft ist und nur wenige Tage vorher vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden war. Marzouk aber hat ein Alibi: Er hält sich zum Tatzeitpunkt in Tunesien auf. Bei seiner Familie.

In der Folge geraten zwei Nachbarn ins Fadenkreuz der Ermittler: Olindo Romano (heute 60) und Rosa Bazzi (heute 55) hatten mit der Verstorbenen einen Gerichtsstreit, und es war in der Vergangenheit immer wieder zu handgreiflichen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Anzeigen gekommen.

Ein Lauschangriff auf das Paar liefert den Ermittlern keinerlei Erkenntnisse. Mehrere Tage nach der Tat entdecken Spurentechniker am Auto des Paares plötzlich einen (mit freiem Auge nicht sichtbaren) Blutfleck, das einem der Opfer zugeordnet wird.

Obwohl weder in der Wohnung des Paares noch an deren Kleidern Blutspuren gesichert werden können (was bei einem Massaker dieses Ausmaßes bemerkenswert ist) und obwohl der einzige Zeuge Mario Frigerio sagt, der Täter hätte kurzes, dichtes Haar und eine olivgrüne Gesichtsfarbe gehabt, werden Olindo und Rosa am 8. Jänner 2007 verhaftet.

Die alternative Spur, die zu einer Abrechnung im Drogenmilieu und einem Bandenkrieg zwischen Tunesiern und Marokkanern führt, wird abrupt fallengelassen.

Zwei Tage  nach ihrer Verhaftung gestehen sowohl Olindo Romano als auch Rosa Bazzi in getrennten Verhören die Tat, beschreiben den Ablauf (sehr vage) und erklären, jeweils allein gehandelt zu haben.

Neun Monate später ziehen sowohl Olindo Romano als auch Rosa Bazzi in der Verhandlung vor dem Voruntersuchungsrichter ihre Geständnisse wieder zurück. Sie seien unter Druck der Ermittler zustande gekommen, behaupten sie.
Ende November 2008 werden die beiden Eheleute in erster Instanz zu lebenslänglicher Haft und drei Jahren Einzelhaft verurteilt.

Im Berufungsverfahren und später in der Kassation wird das Urteil bestätigt.

Olindo Romano und Rosa Bazzi sitzen damit seit fast 18 Jahren im Knast.

 

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