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Fenster wie Spiegel

Christian Martinelli, Installation cube aus der Serie Confini, 2014-2022; Lambda print (Nachlass) Christian Martinelli

„Incontrare Christian Martinelli begegnen“: Kunst Meran widmet dem verstorbenen Meraner Fotografen eine elegische Ausstellung und legt die von der Becher-Schule geprägte, konzeptuelle Substanz seiner Fotografie frei.

Von Heinrich Schwazer

Unhandlicher kann ein Fotoapparat kaum sein. Selbst die klobigen Kamerakästen aus der Frühzeit der Fotografie im 19. Jahrhunderts waren leichtes Gerät im Vergleich zu Christian Martinellis „cubo“ . 2 x 2 x 2 m groß ist seine Kamera, die nach dem seit der Antike bekannten Prinzip der Camera obscura funktioniert. Ausgestattet mit einem 890 mm Objektiv ermöglicht der Apparat, Bilder bis zu einem Meter Breite direkt auf fotosensiblem Ilford-Farbfotopapier aufzunehmen. Die Urform der Kamera erzeugt Unikate von sehr hoher Auflösungsqualität, eigentümlicher Unschärfe, Abschattung zum Bildrand hin und ins Piktoriale wandernde malerische Aussagekraft.

Den fotografietechnischen Anachronismus erdacht hat Christian Martinelligemeinsam mit Andrea Pizzini 2009 während einer Chinareise. Die Idee war es, mit wenigen Mitteln eine nomadische Dunkelkammer im Freien zu positionieren, die gleichermaßen Fenster zur Welt wie Spiegel der Welt ist. „Mir gefiel die Idee, die Arbeit des Fotografen zu reduzieren und ein Objekt zu schaffen, das in der Lage ist, die eingefangenen Bilder zu reflektieren und gleichzeitig einzufangen“, sagt Martinelli in einer Videoaufnahme über das Projekt.

In der Tat: In den verspiegelten Außenflächen des Kubus reflektiert sich panoramatisch die Umgebung, während die fotografische Funktion des Kubus wie ein Blick aus dem Fenster einen Ausschnitt aus der Welt einfangen und repräsentieren kann. Fenster und Spiegel – seit der Renaissance und Leon Battista Albertis berühmtem Traktat von 1435 sind das die zwei Zentralmetaphern für die Malerei, die Fotografie und Paradigma für die Bildkunst schlechthin.

Martinellis Kubus scheint allein von seiner Bauart her eine Erprobung der paradoxen Existenzform der Fotografie zu sein: Dunkelkammer innen, helle Kamer außen (um Roland Barthes Testament der Fotografie „Die helle Kammer„ zu variieren), die Flüchtigkeit des Spiegelbildes, das kein Phänomen vom Typ der camera obscura ist, ebenso wie das Festhalten des Augenblicks.  Dazu kommt: Der Kubus ist ein Fotoapparat, der sich in einen Sehenden und einen Gesehenen aufspaltet. Für gewöhnlich kommt dem Akt des Fotografierens, geschweige denn dem Apparat, kaum Aufmerksamkeit zu, doch Martinellis Kubus ist, wo immer er steht, so unübersehbar, dass der Akt des Fotografierens zur Performance figuriert. Absichtlich unterkomplex wäre es, die Fotografien nur als Bilder zu betrachten und zu begreifen. Sie sind auch und vor allem Resultat eines performativen Aktes.

Mit dieser einzigartigen Kamera hat Martinelli auf den Spuren von Pier Paolo Pasolini (La lunga striscia di sabbia) die gesamte italienische Küste umrundet und in Dutzenden von Aufnahmen des Horizonts festgehalten.

Confini (Grenzen, 2014 –2022) ist zweifelsohne das umfangreichste, aufwändigste und ästhetisch stringenteste Projekt des im vergangenen Jahr jung verstorbenen Martinelli, weshalb es quasi zwingend ist, dass die Kuratorinnen Ursula Schnitzer und Anna Zinelli die Retrospektive bei Kunst Meran mit dem Kubus beginnen lassen. An den Wänden des mehrgeschossigen Lichthofs ist eine Auswahl der Horizont-Fotografien gehängt – leider etwas zu hoch, als dass man sie in der gleichen Perspektive wie der Fotograf betrachten könnte.

Die „Confini“-Serie enthält in nuce die Substanz von Martinellis Fotografie. Nicht die Idee eines „entscheidenden Augenblicks“, die seit Henri Cartier-Bresson gemeinhin als immanentes Prinzip des Mediums gilt, sondern das serielle Denken der Konzeptkunst prägt seine künstlerische Strategie. Serialität statt Einzigartigkeit, zeitliche Dauer statt entscheidender Augenblick, Differenz in der Wiederholung – das sind die aus der Konzeptkunst gespeisten Kunstgriffe seiner Fotografie, die jedoch nie leere Hülle oder formale Spielerei sind.

Londra, 2009, aus der Serie Solitudini, 2000-2022 (Nachlass Christian Martinelli)

Die teils über Jahrzehnte angelegte Dauer seiner Projekte – es gibt eine ausdrucksstarke grafische Darstellung in der Ausstellung, wie viel Zeit er sich für einzelne Projekte genommen hat – verweist darauf, dass es stets um mehr geht als um ein Bild. Und dennoch sind alle Fotografien Unikate und Ergebnisse eines episch zerdehnten Augenblicks mit einer einzigartigen Geschichte. Entstanden durch das einmalige Zusammentreffen von Zeit, Licht, Landschaft und Wetter. Aufgrund der langen Belichtungszeiten, der Wechselwirkung von Schärfe und Unschärfe, den Unwägbarkeiten von Lichtverhältnissen verschwimmt in den Aufnahmen die Horizontlinie und lässt die Bilder ins Piktorialistische wandern. Das nämliche gilt für die Wolkenbilder (Infinito), die wie Hybride zwischen fotografischer Aufzeichnung und malerischer Abstraktion aus nuancierten Farbvaleurs wirken, konkret und abstrakt, Fotografie und Kunst. Personen kommen in der Confini-Serie nicht vor. Verständlich: Menschen würden jedes Bild dominieren, selbst wenn es gar nicht um sie geht.

Die konzeptuellen und seriellen Charakteristika von Martinellis fotografischer Ästhetik kommen auch in der  Serie „Solitudini“ zum Ausdruck. Wie Bernd und Hilla Becher ihre Industrieruinen stellt er darauf einzelne Bäume frei, um sie bildfüllend zu präsentieren. Die Einbindung der Bäume in eine Landschaft ist nahezu vollständig ausgeblendet, umso klarer tritt ihre Struktur zum Vorschein.

Mit dem Gedächtnis der Bilder setzt er sich in der Werkgruppe „Stories“ (1998-2022) auseinander. Über 20 Jahre hinweg hat er das Leben von 14 Menschen begleitet und Krankheit, Liebe, Geburt, Verlassenheit und Tod dokumentiert, um, wie er selbst sagte, „den Wert der Erinnerung zu untersuchen.“

Sehr persönlich wird es in den Werkreihen „Album“ (2008–2022), die auf einer Serie von gefundenen Fotografien anderer Personen basiert, aus denen Martinelli ein fiktives Erinnerungsalbum anfertigte und sich einen Ersatz für Fotos seiner eigenen Kindheit erschuf, sowie „Matrimonio“ (2009–2022), einer kleinen Serie von Originalfotografien der Hochzeit seiner Eltern im Jahr 1967 durch Passepartouts und in Collagetechnik überarbeitet.

Christian Martinelli: Gallery Van (Su Pastori), 2015. Nachlass Christian Martinelli

Wo willst du hin?“ (2009-2019), eine Serie, bestehend aus mehreren Aufnahmen und einem Video (Musik Marcello Fera), in der ein roter Nylonsack an unterschiedlichen Orten der Welt am Himmel schwebt , schließlich feiert das Fernweh, das Martinelli aus seiner Zeit als Reporter kennt. Zugegeben, eine Plastiktasche ist in Zeiten der Vermüllung des Planeten vielleicht nicht das naheliegendste Bild unserer Reiselust, aber als Bild funktioniert es ungetrübt.

Dem Titel „Christian Martinelli begegnen“ folgend, ist die Ausstellung wie ein Gang durch sein Haus aufgebaut. Die Villa Dolores war nicht nur der Ort, an dem er lebte und arbeitete, sie war auch fotografisches Atelier, Werkstatt, Ausstellungsort und ein Ort der Begegnung, der das kulturelle Leben Merans bereichert hat. Einen Eindruck von der einzigartigen Atmosphäre dieses Hauses transferieren Ursula Schnitzer und Anna Zinelli mittels Fotografien, von ihm selbst entworfenen Möbeln und Lampen, seiner Sammlung fotografischer Instrumente und einer Videoarbeit in die Ausstellungsräume von Kunst Meran.

Abgeschlossen und ergänzt wird die Ausstellung durch einen Raum zur Handlungsfähigkeit eines künstlerischen Nachlasses, kuratiert von BAU – Institut für zeitgenössische Kunst und Ökologie (Simone Mair und Lisa Mazza).

Reichlich Substanz für eine elegisch gestimmte Einzelausstellung, die zu Recht das gesamte Haus bespielt.

Termin: Zu sehen bei Kunst Meran bis 28. Jänner 2024.

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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