Du befindest dich hier: Home » Kultur » Verabsolutierung der Obrigkeit

Verabsolutierung der Obrigkeit

Die Finalisten (v.l.) Arsenii Mun, Anthony Ratinov, Ryota Yamazaki, Zitong Wang, Ron Maxim Huang, Antonio Chen Guang (Foto: Anna Cerrato)

Drei chinesische Pianisten, zwei russische und ein japanischer haben sich für die Quartett-Runde qualifiziert. Damit ist der heurige Busoni-Klavierwettbewerbs definitiv ein russisch-asiatischer. Die autoritär regierten Länder Russland und China lassen die „atlantische“ Welt Europa und USA hinter sich.

Von Hubert Stuppner

Die Solo-Runden des diesjährigen Busoni-Wettbewerbes sind abgeschlossen. Im Vergleich zu früheren Ausgaben zeichnen sich bereits jetzt einige Neuigkeiten ab. Allen voran die Steigerung des technischen und musikalischen Niveaus der Teilnehmer. Dies ist zu einem wesentlichen Teil auf die bessere weltweite Erfassung der Nachwuchstalente über das Internet zurückzuführen, ein Kollateral-Effekt der Pandemie, die nicht wenige Wettbewerbs-Veranstalter gezwungen hat, die Qualifikationsrunde – statt vor Ort – über das inzwischen hoch gerüstete Streaming abzuwickeln.

Was für andere Wettbewerbe eine Erleichterung darstellte, für den Busoni-Wettbewerb wurde es zum Glücksfall, da er in der Aufteilung der Proben auf zwei Jahre – wie 20 Jahre lang praktiziert – mit der Online-Austragung der Qualifikationsrunde den eigenen Kandidaten eine zweifache Reise um die Welt erspart und zur Belohnung dafür mehr und siegesgewissere Kandidaten als in den Jahren zuvor erhalten hat. Man kann wohl sagen, dass mit der als „Glocal“ bezeichneten präventiven Online-Selektion der Wettbewerb von einem internationalen zu einem planetaren wurde.

Allerdings hat sich damit auch die nationale Zusammensetzung der Teilnehmer geändert. Nach wie vor klassifizieren wir ja die Konkurrenten nach Nationen, ungeachtet des Versuchs der Leitung des Busoni-Wettbewerbes, die durch den Krieg ins Zwielicht geratene Nationalitätenfrage durch den Kunstgriff der individuellen „Residenzen“ zu entschärfen. Zum Vergleich: Die begnadete Mozart-Interpretin Mitzuko Uchida ist in Wien aufgewachsen und spricht Wiener Dialekt, bleibt aber trotz dieser langjährigen „Residenz“ in Wien eine japanische Pianistin.

Wie sich die Situation am Beginn der öffentlichen Proben in Bozen darstellte, traten im Semifinale von den angesagten 31 Konkurrenten 9 chinesische, 5 russische, 4 koreanische, ein Japaner und insgesamt 13 aus „westlichen“ Ländern (Usa und Europa) stammende Pianisten auf. Wollte man diese nach der sich immer stärker abzeichnenden Aufteilung der Welt in demokratische und monokratische Systeme klassifizieren, dann halten sich die 13 russischen und chinesischen Konkurrenten gegenüber jenen aus liberalen Ländern in etwa die Waage, wobei zur genaueren Bestimmung gesagt werden muss, dass alle russischen und chinesischen Konkurrenten, mit einer Ausnahme im sogenannten „freien“ Westen studieren.

Diese Umschichtung in der Beteiligung ist gegenüber früheren Wettbewerben, als die Mehrzahl der Teilnehmer aus den kapitalistischen Ländern – Japan, Südkorea, Usa und Westeuropa kamen, ein Paradigmenwechsel. Nimmt man aber die 13 Konkurrenten, die eine Runde weiterkamen, zum Vergleich, so kann man feststellen, dass von den fünf russischen Konkurrenten 5 blieben, von den neun chinesischen 4, von den vier Koreanern einer, ein einziger aus Japan und nur zwei von der „atlantischen“ Welt Europa und USA, was einen klaren Vorsprung der autoritär regierten Länder Russland und China ergibt.

Wie erwartet, hat am Sonntag Abend die Präsidentin der Jury, Ingrid Fliter, die sechs Finalisten für die Quartett-Runde verkündet: drei chinesische, zwei russische und einen japanischen. Damit ist der heurige Busoni-Wettbewerb definitiv ein russisch-asiatischer.

Das bevölkerungsreichste Land der Welt hat in Sachen Klavier längst westliche Leistungsstandards erreicht. Man sagt, es gäbe dort 40 Millionen ernsthaft Klavier studierende Chinesen. Die Menge tut es, aber auch der Wille, auf allen Gebieten den Westen einzuholen und zu überrunden. In ähnlicher Weise hat sich nach dem Zweiten Weltkrieges Japan verhalten, als es kulturell und vor allem pianistisch mächtig aufgerüstet hat. In den Achtziger Jahren hat eine Statistik in Japan alle 7 Familien ein Klavier gezählt, bei einer Bevölkerung von 120 Millionen. Und jetzt bleibt am Beginn der zweiten Runde nur noch einer übrig?

Was Russland betrifft, so ist das glänzende Auftreten aller Kandidaten der Beweis, dass die russische Klavierschule nach wie vor die dominante der Welt ist. Was man ja auch im pianistischen Reigen der weltweit begehrtesten Solisten feststellen kann: klingende Namen wie Sokolof, Pletnev, Bunin, Kissin, Beresowsky, Volodos, Trifonov, Mazujew, Maslejew, Ardeevna, Zilberstain, Tokarev u. a. m. Aber es ist auch, worin China und Russland gegenüber dem freien Westen im Vorteil sind: die bedingungslose Unterwerfung der nach dem Leistungs-und Begabtenprinzip streng selektionierten Talente unter die pädagogische Obrigkeit, deren hartes technisches Training diese den Sonderbegabten von der frühem Kindheit an bis zum Abschluss der Studien zumutet.

Doch was für das Wettbewerbsprinzip und die damit verbundene symbolhafte Überlegenheits-Demonstration von Nationen recht und billig sein mag, wenn die Verabsolutierung der Obrigkeit geopolitisch aggressiv wird, liegen die Dinge anders. Auf dem Hintergrund des Ukraine-Annexions-Krieges erinnert die Bestseller -Autorin Masha Gessen, dass der Kreml-nahe Chefideologe des neuen Russland, Alexander Dugin, schon 2002 bei der Gründung nationalistischen Bewegung „Eurasia“ die unversöhnliche Frontstellung zwischen „Eurasiern“ und „Atlantikern“ gerade im Verhältnis zur Obrigkeit und deren absolute Macht theoretisiert und dabei den unversöhnlichen Unterschied zum liberalen Westen hervorgehoben hat: „Individualismus und die Unabhängigkeit des Urteils, das sind Merkmale von Europa, wo wir nichts verloren haben! Liebe zum Gebieter und Unterordnung – das sind die Eigenschaften des russischen Volkes.“(Mascha Gessen, Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor, Suhrkamp, S. 291).

Wenn man die aggressiven Parolen aus dem heutigen Moskau hört, versteht man, worin es bei der sogenannten „Zeitenwende“ geht, nämlich um einen neuen Ansturm tatarischer Reiter auf das Bollwerk Europa. Eine aggressive Anmaßung, die am meisten die eigenen Klavierkünstler beleidigt, wenn sie sich in die westliche Musik vertiefen und wie wenig andere in der Welt interpretieren.

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (1)

Lesen Sie die Netiquette und die Nutzerbedingungen

Kommentar abgeben

Du musst dich EINLOGGEN um einen Kommentar abzugeben.

2024 ® © Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH/Srl Impressum | Privacy Policy | Netiquette & Nutzerbedingungen | AGB | Privacy-Einstellungen

Nach oben scrollen