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„Berührt uns nicht“

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Erneut erteilte die Regierung dem Vorschlag eines Mindestlohns eine Absage. Warum Josef Negri, Direktor des Unternehmerverbandes, die Entscheidung nachvollziehen kann und die Arbeitnehmer dennoch gut abgesichert sieht.

Tageszeitung: Herr Negri, die italienische Regierung hat einen Gesetzesentwurf zur Einführung eines Mindestlohns von neun Euro abgelehnt. Was sagen Sie zu dieser Entscheidung?

Josef Negri: Grundsätzlich haben wir die Bereitschaft und den Willen, mit unseren Sozialpartnern über alle Themen regelmäßig zu diskutieren. Das ist aber ein Thema, welches die Industrie nicht berührt, weil wir heute mit unseren Kollektivverträgen bereits in allen Kategorien, auch in den niedrigsten Bereichen, Mindestlöhne bezahlen, die über diesen Tarif liegen. Konkretes Beispiel ist der Metallsektor. Das ist jener Vertrag, der heute im Industriebereich in Südtirol die größte Anzahl von Arbeitgebern und Arbeitnehmern betrifft. Da sprechen wir von einem durchschnittlichen Stundenlohn von elf Euro brutto.

Arbeitsministerin Marina Calderone begründete die Absage u.a. damit, dass die meisten Berufsgruppen in Italien bereits durch Kollektivverträge geschützt seien. Können Sie diese Argumentation nachvollziehen?

Wir haben bereits 2018 einen Vorschlag auf nationaler Ebene gemacht, den sogenannten „patto della fabbrica“. Dieser sieht vor, dass der Gesetzgeber nur Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden mit einer bestimmten Repressivität, die Möglichkeit bieten soll, Kollektivverträge zu machen, um Piratenverträge zu vermeiden. Wir glauben daran, dass der Kollektivvertrag die beste Basis ist.

Jedoch schützen auch die Kollektivverträge die Arbeitnehmer nicht immer vor prekären Situationen, weil sie sich oft nur träge neuen Gegebenheiten anpassen …

Die Kollektivverträge geben klare von den Sozialpartnern vereinbarte Regeln vor, an die sich Arbeitgeber sowie Arbeitnehmer halten müssen. Der Vorteil der Kollektivverträge ist darüber hinaus, dass nicht nur die Entlohnung definiert wird, sondern zusätzlich auch andere Elemente, wie Urlaube, Freistellungen, Stundenanzahl. Im Industriesektor sind heute italienweit 5,5 Millionen Menschen beschäftigt, über neunzig Prozent davon mit einem gültigen Kollektivvertrag. Im Schnitt werden diese Verträge alle drei Jahre neu ausgehandelt. Sie haben aber aufgrund der Bedingungen, die dort festgelegt werden, unterschiedliche Laufzeiten, z.B. sehen die neuen Verträge im Metallbereich eine jährliche inflative Anpassung vor. Die allermeisten nationalen Verträge sind auch terminlich abgeschlossen worden. Wir haben aufbauend auf dem Grundelement des Kollektivvertrags zudem eine zweite Verhandlungsebene: das Betriebsabkommen, über welches mehr als siebzig Prozent der Mitarbeiter unserer Mitgliedsbetriebe in Südtirol verfügen und wo zusätzliche Bedingungen festgeschrieben sind.

Italien ist in der EU eines der wenigen Länder, in denen noch kein gesetzlicher Mindestlohn vorgesehen ist. Was sind die Gründe dafür, dass dieses Thema zwar immer wieder auf den Tisch kommt und debattiert wird, aber nach kurzer Zeit wieder ergebnislos beendet wird?

Man kann über alles diskutieren. Allerdings sind in sehr vielen Ländern Europas keine solchen flächendeckenden Kollektivvereinbarungen vorgesehen wie derzeit in Italien. Natürlich gibt es auch in Italien Sektoren, die problematisch sind. Dort gilt es einzugreifen. Wenn man jetzt aber von dem System der Kollektivverträge auf Mindestlöhne übergeht, dann besteht das Risiko, dass Unternehmen direkt nur noch den Mindestlohn anwenden.

Nicht nur Saisonarbeiter sind von unterdurchschnittlicher Bezahlung betroffen. Viele, gerade junge Italiener wandern aus, weil sie anderswo mehr Geld verdienen können. Die Lebenshaltungskosten sind dagegen hoch. Wäre ein Mindestlohn nicht sinnvoll, um auch dem Facharbeitermangel entgegenzuwirken?

In keinem Vertrag, der heute in Südtirol im Industriesektor angewandt wird, gibt es einen Mindestlohn, der unter neun Euro liegt. Noch dazu sind wir jetzt in einer Situation, wo jeder um Talente kämpft. Mindestlohn ist immer Mindestlohn. Auch der tarifliche Lohn ist immer ein Mindestlohn. Es ist keine Grenze nach oben.

Ein Mindestlohn kurbelt die Binnenwirtschaft an, weil er für mehr Nachfrage sorgt. Würde das nicht für eine Einführung sprechen, zumal gerade in jetzigen Zeiten, wo die positive Wirkung auf die Konjunktur der Inflation entgegenwirken würde?

Da der Mindestlohn in unserem Sektor bereits höher liegt, generiert er demnach bereits jetzt mehr Nachfrage und mehr Markt. Es gibt natürlich Fälle, wo Lohndumping betrieben wird, oder das Problem der Piratenverträge, die durch von uns nicht anerkannten Organisationen abgeschlossen werden. Dies gilt es zu unterbinden.

Andererseits würden viele Dienstleistungen teurer werden …

Das glaube ich nicht, weil, so vermute ich, derzeit auch im Dienstleistungsbereich der Mindestlohn in den allermeisten Bereichen über diesen neun Euro liegt.

Würde die Einführung nicht aber auch die Staatskasse entlasten, weil somit weniger Personen auf staatliche Zusatzhilfe angewiesen wären?

Das die meisten Menschen heute schon mehr als die angedachten neun Euro bekommen, garantieren die Kollektivverträge bereits höhere Mindestlöhne.

Interview: Sandra Fresenius

 

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Kommentare (5)

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  • andreas

    Der Mindestlohn würde die Kollektivverträge ja nicht aushebeln, was soll also diese unsinnige Argumentation?

    • wichtigmacher

      Ja, genauso ist es, und wo bleibt der Mindestlohn in der Landwirtschaft?? – ausgebeutete Erntehelfer für 3..4 Euro

      • andreas

        Mir scheint, dass es laut Bauern, auch teilweise Südtiroler, gottgegeben ist, dass sie keine vernünftigen Löhne zahlen müssen.
        Was sich z.B. manche Südtiroler bei der Unterbringung der Erntehelfer leisten, ist unter aller Kritik.
        Und wenn man ihnen sagt, dass 20 Leute in einem schäbigen Stadel in Stockbetten unterzubringen, nicht wirklich angebracht ist, verstehen sie es nicht mal.
        Sie bestehen darauf, dass es um ihre 150.000-200.000 Euro Reingewinn zu erhalten, halt nicht anders geht.

  • autonomerbuerger

    Ein sehr größer Teil, der öffentlichen Einrichtungen werden von Sozialgenossenschaften gereinigt. Die Ausschreibungspreise sind so gering, dass keine Sozialgenossenschaft 9 Euro bezahlen könnte. Die meisten Angestellten sind also sogenannte working poor, die arbeiten aber nie vom verdienten Geld leben können. 7,6 euro x 40h/Woche x 4,2 Wochen/Monat ergibt 1276,8 Euro BRUTTO im Monat. Und das in Südtirol. Also brauchen alle eine Sozialwohnung und finanzielle Sozialhilfe. Ohne Einwanderer würden wir im Dreck ersticken. Wäre es nicht gescheiter schon von vornherein mehr zu zahlen?

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