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„Jazz war ein Freiheitsschub“

KID BE KID: Loop Motor war ein Freiheitsschlag, erstmalig von meiner eigenen Musik leben zu können und mich nicht mehr als Sängerin im Kleid in einer „Champagner-Lounge“ von notgeilen Möchtegern-Reichen anstarren zu lassen. (Foto: Theresa Kaindl)

Die Berliner Sängerin und Pianistin KID BE KID klingt wie eine ganze Band, obwohl sie völlig allein auf der Bühne steht. Heute eröffnet sie im Kapuzinergarten Bozen zusammen mit der französischen Gesangsakrobatin Leïla Martial das Südtirol Jazzfestival.

Tageszeitung: Ich habe gelesen, in Ihrem Künstlername KID BE KID steckt der Wunsch, die Sicht eines Kindes auf das Leben einzunehmen. Wie war denn Ihre kindliche Sicht auf das Leben?

KID BE KID: Ich glaube verspielt und unbedarft und vor allem: neugierig und aufgeschlossen neuen Dingen gegenüber. So wie eigentlich jedes Kind denke ich.

Was ist Ihre erste Erinnerung?

Wie ich auf den Wohnzimmerstühlen ‚rumklettere und fest überzeugt bin, dass ich heute Geburtstag habe, meine Eltern mir aber sagen, dass das gar nicht so ist.

„Music was my first love“ singt John Miles. War Musik auch Ihre erste Liebe?

Nein. Ich liebte zuerst Menschen, bevor ich wusste, dass Musik auch eine meiner Lieben sein würde.

Sie haben Jazzgesang studiert. Was hat Sie zum Jazz-Aficionado gemacht und welche Jazzsängerinnen sind auf Ihrer Playlist?

Am meisten haben mich Nina Simone und Ella Fitzgerald damals gepackt. Von Nina war ich so fasziniert, dass ich mir ihre Geschichte angesehen habe. Und ich musste feststellen, dass sie aufgrund von Rassismus nicht als klassische Pianistin akzeptiert wurde, die sie eigentlich war, und durch das Jobben in Bars zum Jazz gekommen war. Das ist schon ein harter Gegensatz zu dem Privileg, das ich genossen habe: als weiße Person in Deutschland einen Studienplatz in dem Bereich zu bekommen, den ich liebte. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Jazzmusik und generell Black Music durch Kolonialisierung und Sklavenarbeit in westliche Kulturen gekommen sind. Schwarze Menschen wurden nicht nur ausgebeutet und unterdrückt, man hat sich auch noch deren Kultur angeeignet und damit Geld verdient – genau genommen bis heute.

Jazz, Neo-Soul, Hip-Hop – in welche Schublade passt KID BE KID, wenn sie denn in eine passt?

Ich bin eben genau von diesen Genres der Black Music inspiriert. Als Kind kannte ich nur klassische Musik über mein Elternhaus und als Teenagerin entdeckte ich Lauryn Hill und Erykah Badu als meine Vorbilder. Mit dem Jazz kam dann für mich ein weiterer musikalischer Freiheitsschub hinzu, weil ich es sofort liebte, mit Musik Grenzen zu sprengen und nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu erfinden.

KID BE KID klingt wie eine ganze Band, obwohl sie völlig allein auf der Bühne steht. Gab es einen bestimmen Moment, in dem Sie beschlossen haben: Ich mache alles solo, ohne Band?

Ja, genau so war es. Es war eine bewusste Entscheidung. Die Organisation von Bands war sehr anstrengend und ich hatte auch was die Arrangements, den Sound und die Komposition anging immer meinen eigenen Kopf. Da ergab es nur Sinn, dass ich den Sprung in die Solo-Karriere startete. Und die Tatsache, dass eine Person vier Instrumente gleichzeitig und ohne Loopstation spielt, bringt spannende Ergebnisse mit sich, da in Sachen Groove, Harmonie und Stimmung immer starke Entscheidungen getroffen werden können, auf der Bühne und im Studio.

Klavier, Synthesizer, Beatboxing und Gesang –das alles live und gleichzeitig aus einer Hand. Klingt nach einem schweißtreibenden Stück Arbeit für ein einziges Gehirn.

Haha ja. Nicht mal zum Schwitzen ist da Zeit. 😉

Die häufigste Reaktion Ihrer Konzertbesucher ist: So etwas habe ich noch nie gesehen! Ist das Ihre künstlerische Vision: Nie vorhersehbar sein, den Mainstream meiden?

Ich denke, es hat sich auf natürliche Art so entwickelt. Ich will mich und mein Publikum schon herausfordern, aber es kommt auch einfach diese Art von Musik aus mir heraus, ob ich will oder nicht. Ich mag einfach nicht zu sehr in Schubladen greifen. Wenn ich zu viele Klischees höre, fühle ich mich gelangweilt.

Wie haben Sie sich die hohe Kunst des Beatboxens beigebracht?

Autodidaktisch. Aber natürlich hatte ich durch das große Privileg, Gesangs-und Klavierunterricht bekommen zu haben, längst ein Verständnis dafür, wie man grundsätzlich ein Instrument lernt.

Musik, die elektronisch klingt, aber einzig und allein aus Ihrem Mund kommt – ist das der typische KID BE KID Sound?

Einzig und allein von Mund, Stimme, Synthesizer und Klavier – ja! So könnte man es sagen! Wobei die Musik eben auch nur stellenweise elektronisch klingt, weite Teile klingen auch akustisch. Generell spiele ich viel mit Dynamik, von minimalistisch bis orchestral.

Ihr Projekt „Loop Motor” ist eine hundertprozentige live-Sache, um Leute zum Tanzen zu bringen. Erzählen Sie uns davon.

Loop Motor startete 2015 als mein erstes Solo-Projekt. Es war ein Freiheitsschlag, erstmalig von meiner eigenen Musik leben zu können und mich nicht mehr als Sängerin im Kleid in einer „Champagner-Lounge“ von notgeilen Möchtegern-Reichen anstarren zu lassen. Loop Motor war rebellisch, auch musikalisch. Damals arbeitete ich mit Loops, die nur mit dem Mund und der Stimme gemacht wurden. Es gab außer Effektpedalen keine weiteren Instrumente. Ich rappte und sang darüber, teilweise auch auf Deutsch. Ich zerhäckselte die eingeloopten Spuren auch On-the-Fly immer wieder, so dass die Loops lebendig blieben. Das war wirklich ein hyperaktives und hyperenergetisches Projekt. Ich möchte es eigentlich gern irgendwann wieder aufnehmen, aber schaffe es im Moment nicht, weil ich glücklicherweise als KID BE KID so viel zu tun habe. Aber neuerdings kommen die Dance-Vibes auch in dieses Projekt mit rein. Das macht Spaß.

Mit Beatboxing das Schlagzeug oder den Drumcomputer zu ersetzen ist ein Aspekt Ihrer Live-Performance. Dazu kommt noch eine ausgefeilte Gesangstechnik, in der Sprache zum rhythmischen Werkzeug wird. Können Sie uns dazu etwas sagen ohne Geheimnisverrat zu betreiben?

Ich verrate grundsätzlich immer alles. Auch in meinen Workshops. Die Beatboxing-Klänge können teilweise direkt als Konsonanten eingebaut werden, wodurch die Illusion entsteht, dass Gesang und Beatboxing gleichzeitig stattfinden. Dabei finden sie nur blitzschnell hintereinander statt.

„come together, fuck the fear, lovely genders“ lautet eine Zeile in Ihrem Album „Lovely Genders“. Ein explizit politisches Statement?

Ja. Als Queerfeministin lehne ich das konstruierte binäre System, das behauptet, es gäbe nur „Männer“ und „Frauen“ explizit ab. Es ist schlichtweg falsch, weil es defacto eine große Vielzahl von Geschlechtern und Geschlechtsidentitäten gibt. Dies zu leugnen ist pure Unterdrückung. Hinzu kommen die Rollenbilder darüber, wie weibliche und männliche Personen angeblich sein müssen. Ich habe mich noch nie wohl gefühlt ins Rollenbild der Frau gepresst zu werden. Und ich drücke auch niemandem anders ein Rollenbild auf oder versuche es zumindest. Darüber spricht „Lovely Genders“. Warum begegnen wir uns nicht als Menschen mit Charaktereigenschaften, mit Humor, mit Eigenheiten. Jede Person darf weinen, Kleider tragen, sauer sein, sich für Technik interessieren, lustig sein, stark sein, schwach sein und vieles mehr. Jede Eigenschaft direkt einem Geschlecht zuzuordnen engt uns alle sehr ein, weil wir uns gar nicht vorstellen können, was und wie wir eigentlich sein könnten. Ich mache damit viele positive Erfahrungen, weil ich bemerke, dass Menschen es genießen, nicht direkt in die Schublade gesteckt zu werden und sich dann von Klischees lösen können und auch mal etwas anderes ausprobieren. Auch auf meinem neuen Album spreche ich das an. „Truly A Life Goal But No Ice Cream“ bricht mit dem weit verbreiteten Traum, so sein zu wollen wie „Barbie und Ken“ – der konstruierten Norm von Geschlecht und Schönheit, den Filtern, durch die wir uns selbst und andere betrachten.

Beim Eröffnungskonzert des Südtiroler Jazzfestivals kommt es zu einem Gipfeltreffen zwischen Ihnen und der französischen Sängerin Leila Martial. Kennen Sie sich bereits oder wird das was ganz Spontanes?

Wir haben uns einmal in Paris kennen gelernt nach einem meiner Konzerte. Ich kenne Leila also nur aus einem Gespräch, habe mir ihre Musik aber natürlich angehört und finde sie fantastisch! Wir werden zu 100% frei improvisieren und ich bin sehr gespannt darauf. Ich glaube, wir werden uns auch auf der Bühne gut verstehen.

Interview: Heinrich Schwazer

Jazz und Techno

 Am 30. Juni wird das Südtirol Jazzfestival im Kapuzinerpark in Bozen eröffnet

Die Festivaleröffnung besteht erstmals aus zwei Teilen. Im Kapuzinerpark startet das Jazzprogramm um 19.30 Uhr mit dem Flötisten und Saxophponisten Juan Saiz, der sein Projekt Pindio II vorstellt und um 21.00 Uhr treten dort zwei herausragende Musikerinnen – auf Einladung des Südtirol Jazzfestivals – zum ersten Mal gemeinsam auf: die Sängerin und Pianistin KID BE KID aus Berlin und die französische Gesangsakrobatin Leïla Martial, die leidenschaftlich gern improvisiert, Instrumente imitiert und auf der Bühne auch schon mal imaginäre Sprachen „erfindet“. Mit ihrem futuristischen und multidimensionalen Stil positioniert KID BE KID einen selbstbewussten Neo-Soul und mundgemachte Beats im großen Spielraum des Jazz. Um 22 Uhr erzeugt dann die Berliner Band Sinularia auf der Jazzbühne mitten im Bozner Stadtzentrum die Beatmusik des dritten Jahrtausends.

Die Berliner Band Sinularia bringt die Beatmusik des dritten Jahrtausends auf die Jazzbühne mitten im Bozner Stadtzentrum. (Foto: David Campesino)

Nach dem Konzertevent zieht das Festival in die Messe Bozen in der Bozner Industriezone um: Dort kombiniert ein Clubbing ab 22.30 Uhr unter dem Motto „Synergy“ Techno, elektronische Musik, Jazzelemente und Kunst-Visuals. Mit dabei sind die DJ’s Hadone (Frankreich), Ruiz Osc1 (Kolumbien), Davide Piras (Italien) und die Turiner Band TUN – Torino Unlimited Noise. Die Visuals liefert das Kollektiv Hand mit Auge, dessen großartige surrealistische Videoprojektionen das Wiener Rathaus bei der Eröffnung der Wiener Festwochen 2022 visuell zuerst zum Einsturz brachten – und anschließend wieder aufbauten.

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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