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„Es bleibt nichts übrig“

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Die gestiegenen Lebenshaltungskosten und die hohen Mieten: Die Armut erfasst jetzt in Südtirol auch immer mehr Menschen mit einem mittleren Einkommen.

Tageszeitung: Frau Priller, in Südtirol kommen immer mehr Menschen mit ihrem Einkommen nicht mehr aus. Verarmt Südtirol zunehmend?

Petra Priller (Leiterin der Caritas Schuldnerberatung): Wir beobachten in der Schuldnerberatung, dass Menschen mit einem niedrigen bis mittleren Einkommen sich aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten, der hohen Inflation und den in Südtirol sehr hohen Mietpreisen immer schwerer tun, bis ans Monatsende zu kommen. Es bleibt nichts übrig für unvorhergesehene Ausgaben oder um etwas anzusparen.

Wie stark ist die Zahl der Hilfesuchenden bei der Schuldnerberatung gestiegen? 

Bei der Caritas haben wir im Jahr 2022 etwa 1.300 Personen und Familien beraten und begleitet, was einem Anstieg von zwei bis drei Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Fast 25 Prozent unserer Klienten waren arbeitslos, während die übrigen über eine Form des Einkommens verfügten. Das durchschnittliche Einkommen lag 2022 bei 1.355 Euro, was für die Verhältnisse in Südtirol sehr wenig ist.

Wer gerät zunehmend in Schwierigkeiten?

Fünfzig Prozent unserer Klienten haben vom Bildungsgrad her die Pflichtschule absolviert. Seit vielen Jahren weisen wir darauf hin: je niedriger der Bildungsstand, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, in Armut abzudriften. Mit einem niedrigen bis mittleren Einkommen ist es sicherlich nicht so möglich, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, wie es andere können. Unter den Personen, die wir beraten, befinden sich kinderreiche Familien, Alleinerzieher, Rentner mit Mindestpensionen aber auch Personen, die arbeitslos sind, die ihre Arbeit aufgrund der Pandemie verloren haben oder ihren Betrieb schließen mussten.

Sind es auch Personen, die bislang nie finanzielle Probleme hatten? 

Derzeit beobachten wir, dass unter unseren Klienten einige sind, die Kredite aufgenommen haben und sich nun aufgrund der Zinssteigerungen schwer tun, weil sich die Raten dementsprechend erhöhen. Der Punkt ist immer derselbe: die Löhne sind im Verhältnis zu den Ausgaben in Südtirol zu gering.

Wie viel Geld steht den bei Ihnen Hilfesuchenden monatlich zur Verfügung und wie verteilt es sich auf die größten Ausgabeposten?

Der größte Teil der Ausgaben, den unsere Klienten zu bewältigen haben, sind vor allem die Mieten und die Ausgaben für Strom und Gas. Wenn Menschen wirklich in einer großen finanziellen Not sind, haben wir als Caritas-Schuldnerberatung die Möglichkeit, auch mal finanziell zu intervenieren. Wir haben im letzten Jahr über 140.000 Euro an Spendengeldern ausgezahlt, um Existenzsicherung zu betreiben, das heißt den Menschen zu helfen, damit sie die Wohnung nicht verlieren, damit ihnen Strom und Gas nicht abgezwackt wird. Auch hier haben wir im Vergleich zum Jahr 2021 eine Steigerung, die zeigt, wie sehr die Menschen unter Druck geraten sind und wie schwer sie sich teilweise tun.

Ist es oft zu spät, wenn die Leute Hilfe holen?

Wenn die Schulden zu hoch sind oder kein Einkommen und keine Verhandlungsmöglichkeiten mit den Gläubigern vorhanden sind, dann tun wir uns leider auch schwer. In vielen Fällen können wir aber durch Verhandlungen mit den Gläubigern, durch eine Basisanalyse mit den Klienten, Ein- und Ausgabenkontrolle, Ratenreduzierung oder Umschuldung einen Zahlungsplan aufstellen, aufgrund dessen die Personen langfristig wieder aus dieser Situation herauskommen.

Welchen Einfluss haben der schwierige Wohnungsmarkt bzw. die hohen Mieten? 

Wir haben Klienten, die eine viel zu hohe Miete zahlen für ihr Einkommen oder andere die kurz vor der Räumungsklage sind und auf dem privaten Mietmarkt kaum Wohnungen finden, die zahlbar für sie sind. Wäre da nicht das Land mit dem Mietbeitrag und gäbe es keine Unterstützung, wären es noch viel mehr Menschen, die sich sehr schwer täten, die privaten Mieten zu zahlen.

Im Zusammenhang mit der Inflation kam auch immer wieder der Ruf nach höheren Löhnen. Würde dies den Betroffenen helfen?

Es geht nicht nur um die Erhöhung von Löhnen und Pensionen, sondern es geht auf der anderen Seite auch um die Senkung bestimmter Ausgaben – von Lebensmitteln über Mieten bis hin zu Strom- und Gaspreisen. Es muss auf beiden Seiten etwas getan werden, um zu ermöglichen, dass Menschen wieder mit Würde und ein bisschen mehr in der Brieftasche ans Monatsende kommen können.

Die finanzielle Situation in vielen Familien spitzt sich seit Monaten zu. Sind immer mehr Kinder und Familien armutsgefährdet?

Unter den Klienten, die wir beraten, haben wir etwa 700 bis 800 Kinder, die indirekt oder direkt mitbetroffen sind von der finanziellen Situation und Sorge, die Eltern verspüren. Kinder und Jugendliche sind immer dann involviert, wo es um Ausgaben für die Kinder und Jugendlichen selbst geht und wo Eltern sich das nicht leisten können. Da ist immer die Frage, wie kann man es so regeln, dass nicht eine Diskriminierung stattfindet. Nicht immer haben Eltern auch den Mut, die Situation anzusprechen und zu sagen, dass sie sich beispielsweise den Schulausflug der Kinder finanziell nicht leisten können, es dann lieber für sich behalten und das Kind einfach nicht mitkommt.

Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein? Wird Südtirol ein großes Problem bekommen, wenn es nicht bald eine Änderung gibt? 

Aus Sicht der Schuldnerberatung hoffe ich, dass langfristig sozialpolitisch und gemeinsam – Wirtschaft, Politik und Sozialpartner – überlegt wird, wie man den roten Faden findet, dass alle sich am Kuchen beteiligen können und die Existenz von allen gesichert ist, so dass es nicht zu sozialen Ausgrenzungen kommt und zu sozialem Unfrieden.

Interview: Sandra Fresenius

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