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Ist die Mafia je zu besiegen?

(v.l.) Leoluca Orlando, der Herausgeber der Tageszeitung Arnold Tribus und der Organisator der Veranstaltung Notar Umberto Russo: Dass ich überlebt habe, verdanke ich den Ordnungskräften und noch mehr den Frauen und Kindern, die mich nie allein gelassen haben. Wenn ich in der Stadt unterwegs war, haben sie zu Tausenden einen Schutzwall um mich herum gebildet, sodass die Mafia es nicht wagte, mich zu töten. (Foto: Francesca Witzmann)

22 Jahre lang war Leoluca Orlando Bürgermeister von Palermo. In seiner Amtszeit hat er das schier Unmögliche geschafft: Die Stadt aus dem Würgegriff der Mafia zu befreien und ihre eine neue Identität zu geben. Auf der „Abschussliste“ der Mafia stand er deshalb ganz oben, als „wandelnde Leiche“ wurde er bezeichnet. Ein Gespräch anlässlich seines Auftritts im Circolo Cittadino Bozen.

Tageszeitung: Herr Orlando, was macht Leoluca Orlando nach einem Leben in der Politik in der Pension?

Leoluca Orlando: Ich lebe das Leben, das ich immer gelebt habe.

Das heißt.

Das heißt, ich lebe mit Respekt vor der Zeit und der Geschichte. Die Werte, die mein politisches Leben geleitet haben, lebe ich nach wie vor und versuche sie zu weiterhin vermitteln.  Ich bin überzeugt, dass es nur einen einzigen Weg gibt, nicht Populist zu sein: Respekt vor der Zeit zu haben. Populisten glauben, dass alles hier und jetzt ist. Sie haben keinen Respekt vor der Vergangenheit und damit auch keine Vision der Zukunft. Sie glauben nur an Twitter und an Slogans. Für mich ist der Respekt vor der Geschichte fundamental, um die Zukunft zu meistern.

Sie waren über 20 Jahre lang Bürgermeister von Palermo. In dieser Zeit haben Sie das schier Unmögliche geschafft: die Stadt aus dem Würgegriff der Mafia zu befreien und ihre eine neue Identität zu geben. Wie ist Ihnen die Verwandlung von der Problemstadt zur Modellstadt gelungen?

Als ich angetreten bin, schien es in der Tat eine unmögliche Mission zu sein. Heute kann man mit Recht sagen: Es ist gelungen, aber die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen, wenn sie es überhaupt jemals sein wird. Palermo ist die Stadt in Europa, die sich in den vergangenen 40 Jahren am meisten verändert hat. Auch Berlin und Moskau haben sich enorm verändert, aber dort waren internationale Entwicklungen – der Fall der Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetunion – ausschlaggebend. Palermo hat sich aus eigener Kraft zu einem neuen Denken und einem neuen Lebensstil befreit. Die Stadt war die Hauptstadt der Mafia, sie war nicht nur präsent, sie hat die Stadt buchstäblich regiert. Im Grunde lag Palermo in einem Dauerkrieg mit dem organisierten Verbrechen, auf den wir unsererseits mit Gesetzen und hartem Durchsetzen dieser Gesetze reagiert haben. Meine wichtigste Maßnahme als Bürgermeister war die Errichtung der „Aula bunker“, wo zwischen 1986 und 1978 der große Prozess gegen mehr als 400 Mafiabosse stattfand. Ich habe mich damals als Zivilkläger gegen die Mafia eingebracht und damit mit der Tradition der Bürgermeister gebrochen, die sich im Amt mit der Mafia arrangiert hatten.

Für die Cosa Nostra waren Sie damit der Feind Nr. 1, ein „lebender Leichnam“ wurden Sie genannt. Wie lebt man über Jahrzehnte mit so einer Bedrohung?

Ich stand auf der „Abschussliste“ der Mafia ganz oben, „Ich sollte der Nächste sein“ wie der Titel meines Buches auf Deutsch lautet. Dass ich überlebt habe, verdanke ich den Ordnungskräften und noch mehr den Frauen und Kindern und den Palermitaner Bürgern allgemein, die mich nie allein gelassen haben. Sie haben mich mehr als meine Leibwächter geschützt. Wenn ich in der Stadt unterwegs war, haben sie zu Tausenden einen Schutzwall um mich herum gebildet, sodass die Mafia es nicht wagte, mich zu töten.

In Italien, aber vor allem auch in Deutschland, gelten Sie als Symbolfigur des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität auf Sizilien. Ihre Beziehung zu Giovanni Falcone war aber konfliktreich. Warum?

Falcone und ich teilten ein gemeinsames Anliegen: Den Kampf gegen die Mafia. Ich hatte kein Problem mit ihm, sehr wohl aber war ich kritisch gegenüber dem Chef der Staatsanwaltschaft von Palermo, der die Aktivitäten von Falcone blockierte. Im übrigen gilt: Die Politik hat ihre Aufgabe und die Justiz eine andere. Nicht immer sind diese im Einklang.

Vor kurzem ist der Superboss Matteo Messina Denaro nach 30jähriger Flucht verhaftet worden. Zweifellos ein Erfolg, aber die Italiener glauben offenbar nicht so wirklich daran. Laut einer Umfrage denken 80 Prozent der Befragten, dass die Mafia so stark ist wie zuvor und nur 12 Prozent sind der Meinung, dass die Verhaftung das mafiöse System geschwächt habe.

Die Verhaftung von Matteo Messina Denaro ist ein sehr wichtiger Erfolg. Dass er 30 Jahre lang nicht geschnappt werden konnte, ist einerseits eine Schande, andererseits zeigt es, wie gut das mafiöse Netzwerk, das den Bossen das Untertauchen ermöglicht, nach wie vor funktioniert und wie tief verwurzelt es ist. Seine Verhaftung wird hoffentlich ans Tageslicht bringen, wie und mit wessen Hilfe es möglich war, dass er so lange nicht aufgespürt werden konnte. Entscheidend ist der Fall aber aus einem andern Grund. Messina Denaro repräsentiert in gewisser Weise den Übergang von der extrem gewalttätigen Mafia mit ihren zahlreichen Opfern zur Mafia der Geschäfte. Denaro war ein Protagonist der alten, blutrünstigen Mafia, die neue Mafia operiert ganz anders. Die schießt nicht mehr mit Maschinenpistolen um sich, sondern präsentiert sich in Anzug und Krawatte. Physisch gesehen ist diese weit weniger gefährlich, aber für die Justiz viel schwieriger zu bekämpfen.

Wird der Kampf gegen die Mafia nie Erfolg haben?

Es gibt nur einen Weg: Wir müssen alle davon überzeugt sein, dass sie besiegbar ist und wir dürfen keine Angst haben, den Kampf zu verlieren. Das ist eines. Das zweite ist: Wir müssen deutlich machen, dass die Verbrechen der Mafia nicht bloß kriminelle Akte sind, sondern sie selbst ein verbrecherisches System ist. Die Unterscheidung ist wichtig. „Normale“ kriminelle Taten werden von Dieben, Mördern oder Betrügern begangen, während die Mafia ein System ist. Ein Bankräuber geht mit einer Waffe in die Bank und erzwingt unter Androhung von Waffengewalt die Herausgabe von Geld. Ein Mafiaboss geht direkt zum Bankdirektor, wird von ihm empfangen und verhandelt mit ihm über die Geschäfte.

Zurück zur Politik. Ihr Nachfolger Roberto Lagalla gehört politisch zum Mitte-Rechts-Spektrum. Wie konnte das nach 20 Jahren Leoluca Orlando passieren?

Ich durfte aufgrund der Mandatsbeschränkung nicht mehr kandidieren. Palermo muss seinen Weg der Befreiung von der Mafia jetzt ohne Bürgermeister Leoluca Orlando fortsetzen. Ich beobachte die Entwicklung von außen und mit einiger Besorgnis.

Was macht Ihnen Sorgen?

Mein Nachfolger wird von zwei Personen unterstützt, die beide verurteilte Straftäter sind und im Gefängnis waren: Der enge Freund und Weggefährte von Silvio Berlusconi Marcello Dell`Utri und der ehemalige Regionalpräsident von Sizilien Totò Cuffaro. Dass Lagalla die Unterstützung von Seiten dieser Personen nicht zurückgewiesen hat, beunruhigt mich sehr.

Ein anderes Thema: Sizilien steht unter starkem Migrationsdruck von Afrika. Fast täglich landen oder stranden Boote mit Flüchtlingen. Die Regierung plant sogar, den regionalen Notstand auszurufen.

Um die Frage zu beantworten, muss ich etwas ausholen. 1993, nach der Ermordung des Priesters und Anti-Mafia-Aktivisten Pino Puglisi in einer Kirche in einem Außenbezirk der Stadt, haben die Palermitaner nicht nur gesagt: Schluss, jetzt reicht´s, wir wollen endlich, dass das Gesetz angewendet wird. Sie haben gesagt: Wir wollen, dass endlich das Recht herrscht. Das Recht auf Wahrheit, das Recht auf Leben. Um das Recht auf Leben zu verteidigen, haben wir uns international gegen die Todesstrafe engagiert. Ein zum Tode verurteilter Amerikaner hat daraufhin darum gebeten, in Palermo begraben zu werden. Es gab weitere Aktionen, um das Recht auf Leben zu verteidigen. Ich glaube, ich war der erste Bürgermeister Italiens, der an der Spitze einer Gay Pride mitmarschiert ist und der die Lebensgemeinschaften von Homosexuellen anerkannt hat. Was die Migranten anbelangt, ist an die 2015 unter meiner Bürgermeisterschaft vom Stadtrat verabschiedete Charta von Palermo zu erinnern…

… die Charta, die für das Menschenrecht auf Freizügigkeit streitet und das System der Aufenthaltsgenehmigungen abschaffen will.

Richtig. Nationale und internationale Freizügigkeit und Mobilität sind unveräußerliche Menschenrechte, die nicht angetastet werden dürfen. Das Sterben so vieler Menschen auf der Flucht muss beendet werden, wenn wir uns nicht schuldig machen wollen. Es wird neue Nürnberger Prozesse (Die Nürnberger Prozesse wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gegen führende Repräsentanten und Hauptkriegsverbrecher des Nationalsozialismus durchgeführt. Anm. d. Red.) geben, weil wir weggeschaut haben. Wir können unseren Enkeln gegenüber nicht behaupten, wir hätten nicht gewusst, was passiert – so wie es unsere Großeltern nach dem Faschismus und Nationalsozialismus gemacht haben. Das Sterben passiert vor unseren Augen.

In Europa und Italien dominiert im Moment die Angst vor Überfremdung.

Diversität ist ein Reichtum, wir brauchen Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Wir sind alle anders und alle gleich. Es gibt nur eine Rasse: die Menschen, egal welcher Hautfarbe oder welcher Religion sie angehören.  In einer globalen Gesellschaft dürfen nicht nur die Finanzwirtschaft, der Waffenhandel und die Mafia das Recht auf Freizügigkeit haben.

Zur Regierung Meloni. Wie beurteilen Sie deren Arbeit?

Wir erleben aktuell die Auswirkungen des Klimawandels und parallel dazu einen ebenso negativen Klimawandel der politischen Kultur Italiens. Giorgia Meloni ist von Leuten umgeben, die den Faschismus im Herzen tragen. Das ist ihr Problem.

Ein letzte Frage: Sie haben unter anderem auch in Deutschland studiert. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Ich liebe Deutschland und die deutsche Kultur. Ich hatte das Privileg, in Heidelberg Jus und Philosophie zu studieren und Vorlesungen von Hans-Georg Gadamer miterleben zu dürfen. Deutschland ist ein großes Land mit einer großen Kultur und wie jedes große Land hat es Fehler begangen. Wenn ein großes Land Fehler begeht, begeht es große Fehler.

Interview: Heinrich Schwazer

 

Zur Person

Leoluca Orlando wurde 1947 in Palermo als Sohn eines Juristen und einer Aristokratin geboren. Er wuchs mit sechs Geschwistern auf, studierte Rechtswissenschaft in Palermo und Heidelberg und engagierte sich ab 1975 bei der Partei Democrazia Cristiana. 1985 wurde er zum ersten Mal zum Bürgermeister Palermos gewählt. Als die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992 durch Bombenattentate ums Leben kamen, stand auch er auf der Todesliste der Mafia. Die Gefahr für sein Leben war in den Neunzigerjahren so groß, dass er als „wandelnde Leiche“ bezeichnet wurde. Er überlebte, doch bis heute steht er unter ständigem Polizeischutz.

Unter Orlando als Bürgermeister erlebte Palermo, das damals auch mit dem Beirut der Achtzigerjahre verglichen wurde, den Frühling von Palermo. Während seiner Amtszeit wurden viertausend Mafiosi inhaftiert und die Zahl der Mafia-Morde, die sich auf jährlich zweihundertfünfzig belaufen hatte, nahm deutlich ab.

1993 wurde er wieder zum Bürgermeister Palermos gewählt, von 1994 bis 1999 saß er im Europaparlament und wurde 1997 mit beinahe 60 Prozent der Stimmen erneut als Bürgermeister von Palermo bestätigt. 2012 wurde Orlando zum vierten und 2017 zum fünften Mal zum Bürgermeister Palermos gewählt. Seither engagiert er sich in besonderem Maße für Flüchtlinge, die sich an die Küste Siziliens retten können.

Leoluca Orlando wurde unter anderem mit der Goethe-Medaille (1999), dem European Civic Prize (2000), und dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland (2021) ausgezeichnet.

 

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