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„Ein Loch in der Gefängniszelle“

Zasha Colah (Indien, 1982) und Francesca Verga (Italien, 1989) übernehmen im Duo die künstlerische Leitung der ar/ge kunst Bozen. Ein Gespräch mit Zasha Colah.Verga konnte aus Krankheitsgründen leider nicht am Gespräch teilnehmen.

Tageszeitung: Frau Colah, Sie kommen aus der indischen Millionenstadt Mumbai. Was führt Sie nach Bozen?

Zasha Colah: Die Kunst. Ich bin in Mumbai und Sambia aufgewachsen, habe in Indien, später in Oxford und Italien Kunstgeschichte studiert und wusste seit meiner ersten Tätigkeit als Kuratorin in der National Gallery of Modern Art in Mumbai über zeitgenössische Kunst in Burma (heute Myanmar, Anm. d. Red.), dass die Kunst meine Berufung und meine Sprache ist. Wenige Monate danach kam es dort zum Staatsstreich und viele Künstler landeten im Gefängnis. Es herrscht nach wie vor große Ungewissheit und Angst, viele Künstler sind im Exil. Aktuell lebe ich mit meinem Mann und meiner Tochter in Turin.

Was hat Sie dazu bewogen, sich für die Leitung der ar/ge Kunst zu bewerben?

Mir gefällt die künstlerische Ausrichtung der Galerie. Sie war von Anfang an sehr politisch, hat sich drängender gesellschaftlicher Fragen und Probleme angenommen und das in völliger Freiheit. Es gibt nicht viele Kunsträume, die einem solche Möglichkeiten und Freiheiten bieten. Meiner beruflichen Erfahrung nach ist es immer ein Kampf, wenn man politische Kunst außerhalb des Status quo machen will. Außerdem kenne ich Luigi Fassi sehr gut. Mit ihm habe ich auch beim Steirischen Herbst zusammengearbeitet.

Interessiert Sie vor allem politisch orientierte Kunst?

Ich kann nur für mich sprechen, aber ich kenne Francesca (Verga, Anm. d. Red.) sehr gut. Ich habe mehrfach mit ihr zusammengearbeitet, unter anderem in einem neuen Kunstraum in Mailand. Wir haben zusammen über die Themen Antirassismus und Künstler in der Diaspora gearbeitet. Es geht uns gemeinsam um künstlerische Praktiken, die Freiräume des Denkens eröffnen. Politik verstehen wir nicht in einem aktivistischen Sinn, sondern als Imagination. Deshalb ist es uns auch wichtig, dass immer Humor und Ironie eine Rolle spielen.

Ironie als künstlerisches Instrument gegen Macht und Unterdrückung.

Ja. In Indien war ich 10 Jahre lang Teil eines Kollektivs, das Humor und Ironie eingesetzt hat, um politische Aussagen zu treffen.

Mit Francesca Verga werden Sie die ar/ge Kunst als Duo kuratieren.

Wir kennen und verstehen uns gut. Es ist aber auch eine bewusste Entscheidung, es zu zweit und nicht allein zu machen. Die Idee des Kollektivs spielte in der Geschichte der ar/ge Kunst ja von Anfang an eine große Rolle, das sagt ja allein schon der Name Arbeitsgemeinschaft.

Der alleinherrschende Direktor ist ja eine ziemlich maskilistisch, reaktionäre Position.

(lacht) Ich sage nicht, dass eine Einzelperson es schlechter machen würde, aber für uns passt es im Duo. Wir mögen den Dialog und wir mögen es, andere miteinzubeziehen. Das bedeutet nicht, dass alle Projekt kollaborativ sein werden. Es kann durchaus auch Ausstellungen oder Projekte geben, die nur eine von uns verantwortet. Und wir sind ja keineswegs immer einer Meinung, was für die Auseinandersetzung mit einem Thema sehr wichtig ist.

Was wissen Sie von Bozen und von Südtirol?

Im Moment noch nicht sehr viel, es sind eher Ahnungen, wie die Realität hier ausschaut. Es ist eine Grenzregion und das spürt man sehr deutlich, selbst wenn man noch wenig Informationen hat. Es scheinen sich alle Gruppen einer Minderheit zuzurechnen und das fordert die Menschen heraus, immer mehrere Perspektiven einzunehmen. Niemand hat die Wahrheit gepachtet. Es ist auch ein bisschen ein Labor für die Zukunft, wenn man bedenkt, dass die Stadt der Zukunft möglicherweise das Flüchtlingscamp und der neue Bürger der Flüchtling sein wird. In Mailand hatte ich einen chinesischen Studenten, der eine schöne Arbeit über Denkmäler in Südtirol gemacht hat. Dieses Rechercheprojekt hat mir einiges über die Geschichte dieses Landes vermittelt.

Ein chinesischer Student, der einer indischen Kuratorin Südtirol anhand seiner Denkmäler erklärt. Das nennt man global.

Ja (lacht). Er war besonders fasziniert von der Tatsache, dass es zu einigen Denkmälern ein Gegendenkmal gibt.

Die erste Ausstellung trägt den Titel „Die Fliege is a fly in volo“.

Der dreisprachige Titel drückt schon die Multiperspektivität aus, die uns wichtig ist. „The Fly“ ist eine Performance des Künstlers Htein Lins aus Myanmar, der bis November 2022 im Gefängnis saß. Die Arbeit stammt aus dem Jahr 2001, auch damals saß er schon im Gefängnis, allerdings noch unter einer anderen Diktatur. Sie ist also im Gefängnis entstanden und außer einigen Insassen hat sie niemand gesehen. Nach seiner Freilassung hat er andere Künstler aus Myanmar, die im Exil in Marseille, Paris und Berlin leben, miteinbezogen. Ein weiterer Künstler, Amol K. Patil, kommt aus Indien, der bei der heurigen documenta mit einer großen Arbeit präsent war und für die nächsten zwei Jahre an der Rijks Akademie in Amsterdam engagiert ist. Zusammen haben sie „The Fly“ neu geschaffen und fortgesetzt. Der erste Raum der Galerie ist ausschließlich dieser Arbeit gewidmet. Es geht also um ein Werk, das in einer Gefängnissituation entstanden ist und im Original von niemandem gesehen wurde. Uns interessiert, wie so ein Werk weitergegeben wird.

Die Welt steckt im Krisenmodus – Klimawandel, Krieg, Pandemien und so weiter – welche Rolle sehen Sie in dieser Situation für die Kunst?

Möglicherweise ist nur die Kunst imstande, ein Loch durch die Wand einer Gefängniszelle zu brechen.  Für mich als Kuratorin schafft sie Räume der Reflexion und eröffnet Möglichkeiten der Verwandlung und den Entkommens. Nehmen wir zum Beispiel das Instrument der Ironie, das Htein Lins eingesetzt hat, als er vor Gericht stand. Als die Künstler vom Richter zu 7, 8 oder 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, reagierten sie auf völlig unerwartete Weise. Sie waren nicht niedergeschlagen oder am Boden zerstört, sondern sagten: Oh, nur 10 Jahre, ich dachte ich bekomme mehr, warum hat der da 15 Jahre bekommen und ich 5 Jahre weniger! Und sie fielen einander um den Hals und gratulierten sich dazu, es geschafft zu haben, offiziell politische Gefangene zu sein. Die Richter wussten überhaupt nicht, was da vorgeht. Die Künstler feierten die Verurteilung wie eine Performance und verwandelten den Gerichtshof damit in ein Komödientheater, in ein Kabarett. Das ist es, was ich an der Kunst liebe: Ihre Kraft, eine Situation von einem Moment auf den anderen völlig zu verwandeln und die Macht damit herauszufordern.

Interview: Heinrich Schwazer

Die Fliege is a fly in volo

In der ersten Ausstellung des Jahres 2023, Die Fliege is a fly in volo,(re)konstruiert die Ar/Ge Kunst Formen von kulturellem Gedächtnis, (re)präsentiert und (re)inszeniert sie, um vor Augen zu führen, wie die Vorstellungskraft „ein Loch durch die Wand einer Gefängniszelle bohren kann“. Die Fliege is a fly in volo untersucht künstlerische Überlieferung in Situationen des Zwangs. Die im Verborgenen entstandenen Werke und Performances des Künstlers Htein Lin wie etwa The Fly werden als Reenactments und Rekonstruktionen durch Künstler*innen, die Zeitzeug*innen von Lins Werk sind, dem Publikum präsentiert.

Zum Programmstart präsentiert die Ar/Ge Kunst zudem eine neue, von Norma und Giorgio del Buono entwickelte Corporate Identity.

Die von der Ar/Ge Kunst herausgegebene Publikationsreihe Novellas behandelt kollektive Formen der Kulturproduktion und richtet sich vor allem darauf, wie individuelle Akte der Imagination und Fabulation in gemeinsamen Kontexten kollektiv werden können.
Der erste Band der Reihe präsentiert ins Deutsche, Italienische und Englische übersetzte Auszüge aus der Kurzgeschichte The Special Court (Das Sondergericht), die die Prozesserfahrung des Künstlers Htein Lin vor einem eilig einberufenen „Sondergericht“ für politische Gefangene schildert. Während der Gerichtsverhandlung unterminierten Komik und Groteske die Ordnung der Welt, rückten sie zurecht und verwandelten das Gericht durch einen Akt kollektiver Imagination in das, was die Inhaftierten in ihm sahen: eine Farce. Novellas wird von Giulia Cordin gestaltet.

www.argekunst.it

Die Kuratorinnen

Zasha Colah (Mumbai, 1982) ist Kuratorin und Autorin. Sie lehrt Storia comparativa e teoria della curatela an der Nuova Accademia di Belle Arti (Mailand 2018-), ist Mitglied des Redaktionsausschusses von Geoarchivi (Meltemi & NABA) und Forschungsstipendiatin bei 221A (Vancouver 2021-). Ihre Doktorarbeit (La Sapienza 2020) drehte sich um Illegalität und Meta-Ausstellungspraktiken in Indo-Myanmar seit den 80er Jahren. Sie ist Mitbegründerin der kuratorischen Kollaboration und Künstlervereinigung Clark House Initiative (Mumbai 2010-22) und co-kuratiert Aktionen und Ausstellungen im Raum und auf der Straße oder als Gast bei ISCP NY, Ink Yangon, Kadist Paris, SMBA Amsterdam und anderen (mit Sumesh Sharma et al., 2010-15). Zu den kuratorischen Projekten gehören I love you Sugar Kane (ICAIO Port Louis 2016), Prabhakar Pachpute (mit Luca Cerizza, NGMA Mumbai 2016), body luggage (steirischer herbst, Kunsthaus Graz 2016), 3rd Pune Biennale (mit Luca Cerizza 2017), 2. Yinchuan Biennale (Kuratorenteam unter Leitung von Marco Scotini 2018), als co-künstlerische Leiterin Archive Milano monografische Ausstellungen von Muna Mussie, Anawana Haloba (mit Chiara Figone, 2021).

Francesca Verga (Mailand, 1989) ist Ausstellungsmacherin, Forscherin und Organisatorin im Bereich der bildenden und darstellenden Künste und verfügt über Erfahrung im Management von Kulturinstitutionen und Kunstbiennalen. Verga war Generalkoordinatorin der Manifesta 12 (Palermo, 2015-2018) und kuratorische Koordinatorin der Manifesta 13 (Marseille, 2019-2020) sowie stellvertretende Direktorin von Archive (Mailand, 2021-). Sie initiierte die Online-Kulturplattform Liaux (liaux.org), eine Reihe von Ausstellungen und Projekten, die im Dialog mit einem nicht-physischen Raum präsentiert werden. In ihrer Doktorarbeit im Fachbereich Kunst und Kultur der Universität Amsterdam (2022) beschäftigte sie sich mit den Spannungen zwischen Erinnerung, Fiktion und Fabulation in den frühen Performances von Mike Kelley aus den 1970er bis 1980er Jahren. Sie hat auch mit Kultureinrichtungen und Universitäten wie dem IED Istituto Europeo di Design (Florenz), Museo MACRO (Rom), Savvy Contemporary (Berlin), NEMO The Network of European Museum Organisations (Berlin), Barnard College (Columbia University, New York), Stedelijk Museum (Amsterdam) und IMT Schools for Advanced Studies (Lucca) zusammengearbeitet.

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (3)

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  • andreas1234567

    Hallo nach Südtirol,

    komplett durch Spenden und hauptsächlich Steuern finanziert.

    Das geschwollene Geschwätz warum das Ganze denn nun unbedingt wichtig ist und deswegen durchgefüttert werden muss findet sich hier in der Eigenreklame:

    https://argekunst.it/de/uber-uns

    Im Gefälligkeitsinterview dürfen die Künstlerinnen dann auch über ihre Wichtigkeit bei Klimawandel,Krieg,Pandemie referieren..

    Kostenpflichtige Lächerlichkeit und zu berücksichtigen wenn demnächst mal wieder bei Land und Gemeinde die Kassen leer sind und leider das Gemeindeangebot bei den Freizeiteinrichtungen eingeschränkt/geschlossen werden muss.
    Bei den sozial-kulturellen Hütchenspielern lässt sich fein Geld sparen und es werden Erntehelfer frei, einfach kein Geld mehr für nutzlosen Mumpitz hergeben.

    Finanziert den Bergbauern lieber mit 80% statt 20% ihre Aussenmechanisierung, aktuell werden die 20 % und das auch nur alle 10 Jahre lautstark geneidet von ebenjenen Gruppen die kein Problem haben mit 100% öffentliche Gelder für solchen nutzlosen Scheiss aus dem Fenster zu schmeissen

    Auf Wiedersehen auf einem Berghof

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