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Die Philosophie hat mich gerettet

Fernando Armellini: Nach dem Tod meiner Frau stand ich vor der Wahl, depressiv zu werden oder mich aufzuraffen und etwas zu unternehmen.

Die Geschichte von Fernando Armellini macht Mut. Der 80jährige lebt im Seniorenwohnheim Pilsenhof in Terlan und hat eben sein zweites Studium abgeschlossen. Das Studium der Philosophie habe ihn nach dem Tod seiner Frau vor der Depression gerettet, erzählt er.

Ein Kleinwohnung im Seniorenwohnheim Pilsenhof in Terlan, 50 Quadratmeter groß, ausgestattet mit Studierzimmer und einer Miniküche, vom Balkon aus sieht man den Kirchturm. Hier wohnt Fernando Armellini. 1942 in Bozen geboren, war er während seines Berufslebens in leitenden Positionen in der Privatwirtschaft tätig, absolvierte neben seinem Beruf ein Jusstudium an der Universität Modena, und kehrte nach seiner Pensionierung nach Südtirol zurück. Als 2015 seine Frau starb, geriet sein Leben aus den Fugen. Um der Isolation zu entgehen, – seine beiden Söhne leben in Rom bzw. in der Schweiz – bezog er die Wohnung im Pilsenhof, um in Gemeinschaft und zugleich autonom leben zu können.

Tageszeitung: Herr Armellini, der Tod Ihrer Frau 2015  hat Ihrem Leben eine schreckliche Wende gegeben.

Fernando Armellini: Ein enormer Schmerz, den ich heute noch nicht verwunden habe. Mir ist buchstäblich der Sauerstoff genommen worden. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin heute noch untröstlich. Wir waren 51 Jahre verheiratet, eine der ersten gemischtsprachigen Ehen im Land. Nach ihrem Tod stand ich vor der Wahl, depressiv zu werden oder mich aufzuraffen und etwas zu unternehmen.

Sie haben den Weg der Weisheit gewählt und ein Studium der Philosophie begonnen.

Beruflich war ich in der Wirtschaftswelt zu Hause, aber die Leidenschaft für die Philosophie hat mich lebenslang begleitet. Mit dem Studium habe ich diese Leidenschaft konkretisiert. Da es an der Universität Bozen keine philosophische Fakultät gibt, habe ich mich in Trient inskribiert und nach drei Jahren meinen Abschluss mit einer Arbeit zum Thema „Der Mensch im Zeitalter der Technik“ gemacht.

Mit knapp 80 Jahren ein Studium zu beginnen, ist eine echte Herausforderung.

Es war hart, eine echte Willensanstrengung. Ich bin täglich, ohne Ausnahme, bis zu 12 Stunden über meinen Büchern gesessen. Sogar an den Weihnachtstagen.

Warum gerade Philosophie?

Philosophie hat in unserer modernen Gesellschaft einen seltsamen Ruf, sie gilt als etwas sehr Theoretisches, Abgehobenes, als etwas, worüber man endlos und schön reden kann, was aber mit unserem alltäglichen Leben kaum etwas zu tun hat. Nichts könnte falscher sein. Philosophie, beginnend bei den alten Griechen bis heute, hilft uns die Gegenwart, also die heutige Welt mit all ihren raschen Veränderungen, zu verstehen, zu erkennen und damit zu bewältigen.

Zum Beispiel.

Ich kann von mir behaupten, dass einige Fehler, die ich in meinem Leben gemacht habe, vermieden hätten werden können, wenn ich mich früher mit Philosophie befasst hätte. Das gilt sowohl im denkerischen Sinn, als auch für die persönlichen Beziehungen. Die Philosophie fordert einem in erster Linie ab, zuerst nachzudenken und zu reflektieren, bevor man reagiert. Es gilt, sich einen Moment Zeit zu nehmen und nachzudenken, bevor man mit einer Meinung herausschießt. Zweitens verlangt sie immer ein Warum, eine Begründung, sie zwingt einen, seine Meinung zu begründen. Eine Meinung hat jeder, aber wenn man ihn nach dem Warum fragt, bekommt man meist zu hören: Das wurde im Fernsehen gesagt oder ich habe es in der Zeitung gelesen. Philosophie hingegen ist keine Meinung, sie ist Hinterfragung von Meinungen, sie sucht nach Begründungen, sie bedeutet eingehende Analyse. Womit sie uns auch vor Radikalismen schützt, vor der Auffassung, die Wahrheit in der Hand zu haben.  Es gibt eine zunehmende Radikalität, den anderen als Feind zu sehen. Philosophisch zu denken, bedeutet zuallererst, Vorsicht und Demut walten zu lassen.

Wie sieht ein philosophischer Geist die Gegenwart.

Ich bemerke in Italien, aber auch in ganz Europa, ein Schwinden der Kultur, der Bedeutung von Kultur im allgemeinsten Sinn. Das beginnt schon in den Schulen, die sich immer stärker in Richtung Spezialisierung entwickeln. Technik vor allem. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe nichts gegen Technik, sie ist eine enorme Hilfe, aber es geht um den ganzen Menschen, um seine Persönlichkeit, seine Gefühle wie Liebe, Freundschaft und so weiter. Auch die wollen erzogen sein. Wirtschaft und Technik sind die bestimmenden Größen unserer Gesellschaft, doch ihr Übergewicht bringt auch Verluste mit sich.

Welche?

Den Verlust der menschlichen Seite, der sich in der Kultur ausdrückt. Das äußert sich unter anderem darin, dass kaum noch gelesen wird. Die heutige Schule mag gute Techniker heranbilden, aber wo bleibt die Erziehung der Herzen, des Denkens? Das ist ein Problem, mit dem man im Alter mit aller Härte konfrontiert wird. Ich sehe um mich herum sehr viele Menschen, die buchstäblich Verlorene sind. Sie gehen in Pension und wissen häufig nicht mehr, was sie mit sich anfangen sollen. Nicht mehr arbeiten zu müssen, ist im ersten Moment ein Glück, aber mit der Zeit kommen die Probleme.

Ein Beispiel?

Das beginnt ganz konkret damit, dass dich niemand mehr anruft. Ab dem Moment bist du allein mit dir. Um dich herum ist Wüste, ist Alleinsein und dann beginnt oft die Depression. Es gibt eine Statistik, wonach die Hälfte der Italiener die Einsamkeit mit dem Gang in die Apotheke bekämpft. Ich weiß nicht, ob sie stimmt, aber etwas ist dran. Manche arbeiten irgendwie weiter oder sie treiben Sport – nichts dagegen einzuwenden – aber Nahrung für die Seele bietet einzig die Kultur. Sie allein bietet einen Horizont, der über die Spezialisierung hinausführt und uns damit die Möglichkeit gibt, in Verbindung mit anderen zu treten.

Und die Philosophie.

Sie ist das einzige Denken, das unter die Oberfläche führt, sie lehrt uns, tiefer zu schauen. Aber eines ist sicher: das philosophische Denken hat nicht mehr die Kraft, sich gegen ihren großen Konkurrenten, die Technik, zu behaupten. Alle unsere Lösungen sind technischer Natur.

Warum ist das so?

Philosophie ist auf den Plätzen, auf der griechischen Agora, in der Öffentlichkeit, im Gespräch geboren. Im Mittelalter war sie eine Sache der Klöster, wo die Mönche die alten Texte abgeschrieben und damit bewahrt haben. Danach ist sie in die Universitäten gewandert und dort hat sie im Laufe der Zeit leider eine sehr schwierige, abgehobene Sprache angenommen. Sie ist sehr akademisch geworden und spricht für den gewöhnlichen Menschen häufig eine unverständliche Sprache. Das ist ein großes Manko. Es muss der Philosophie gelingen, eine Sprache zu sprechen, die unsere heutige Realität wiederzugeben imstande ist. Schwierig, aber es ist möglich. Die Menschheit steht vor riesigen Herausforderungen. Globalisierung, Migration, die wachsende Rivalität zwischen den Großmächten, die Umwelt und die Folgen unserer Technikgläubigkeit. Innovation ist der Motor der Wirtschaft, aber wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir riskieren, die Technik nicht mehr zu beherrschen, sie könnte uns aus den Händen gleiten und unabsehbare Folgen zeitigen.

Welcher Philosoph hat Ihr Denken am stärksten geprägt?

Platon selbstverständlich und Heraklit, Augustinus und Thomas von Aquin, der meines Erachtens prophetisch die Zukunft vorausgedacht hat. Stark beschäftigt haben mich auch Spinoza und Giordano Bruno. An den Geistesgrößen wie Hegel, Schopenhauer, Heidegger, Husserl und Karl Jaspers kommt man nicht vorbei, aber der Denker, der mich am meisten mit der Leidenschaft des Denkens erfüllt, ist Friedrich Nietzsche. Er hat mit der Tradition radikal gebrochen und die Überwindung der Metaphysik eingeleitet. Wenn ich in den Texten dieser Denker lese, geht es mir gut und ich verstehe, warum ich überlebt habe. Für mich war das Studium der Weg aus der Depression, es gibt mit Sicherheit viele andere, aber alle müssen ihre Wurzel in der Kultur haben.

Das Philosophiestudium haben Sie abgeschlossen. Folgt jetzt ein weiteres?

Diese Frage stellen mir alle. Die Antwort ist einfach: Nein. Ich werde weiterhin lesen, mich meinen Studien widmen, das ist mein Lebensinhalt, meine Medizin, wenn Sie so wollen. Aber mit der Universität habe ich abgeschlossen. Ein weiterer Studientitel wäre eine Übertreibung, ein Art Rekordsuche  und damit unphilosophisch – schaut her, was ich in meinem Alter noch imstande bin. Nichts liegt mir ferner. Studium ist kein Selbstzweck, ich muss niemandem etwas beweisen, es ist der Versuch mich selbst, die Welt, die Gegenwart und andere Menschen zu verstehen. Ich schreibe derzeit an einem Essay über die Einsamkeit. Die gibt es, glauben Sie mir. Ich habe sie auch bei den jungen Studenten gespürt. Man spürt sie überall, am stärksten vielleicht, wenn man unter vielen Menschen ist.  Unsere Handys und Computer sind überaus praktisch, aber sie ersetzen nie und nimmer eine persönliche Begegnung. Wenn uns die Pandemie etwas gelehrt hat, dann das.

Interview: Heinrich Schwazer

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (3)

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  • artimar

    Philosophie als Lebenskunst, als philosophische Lebensberatung hat es seit ihren Anfängen. (vgl. a. W. Schmid) Der akademischen Philosoph, die sich lieber mit der Exegetik historischer Texte beschäftigt als mit scheinbar ganz gewöhnlichen, alltäglichen Erfahrungen zum eigenen Denken, tut gut, sich daran zu erinnern. Nach dem Motto: „Philosophisch ist die philosophische Lebensberatung“

  • dn

    Die Philosophie muss raus aus dem Elfenbeinturm, denn sie liefert Antworten auf brennende Fragen. Sie sollte für jedem denkenden Menschen verständlich sein und für Journalisten sollte sie ein Pflichtstudium sein.

  • seta

    Ein weiser, bewundernswerter, kluger Mann mit Vorbildfunktion! Er sollte Vorträge an Schulen halten, die Jugend von heute könnte viel von ihm lernen.

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