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„Das wäre ein Erdbeben“

Am Sonntag wählt auch Tirol ein neues Landesparlament. Der Chefreporter der „Tiroler Tageszeitung“, Peter Nindler, blickt für die TAGESZEITUNG in die Kristallkugel – und verrät, wie die Stimmung bei den nördlichen Nachbarn ist.

TAGESZEITUNG Online: Herr Nindler, eine einfache Frage, wie gehen am Sonntag die Wahlen in Tirol aus?

Peter Nindler: Das kann keiner sagen. Es sieht so aus, dass es für die ÖVP Verluste geben wird. Wie hoch diese Verluste ausfallen – ob die ÖVP Richtung 30 Prozent geht oder ob es am Ende um die 35 Prozent sein werden –, das kann niemand sagen.

ÖVP-Spitzenkandidat Toni Mattle hat zuerst erklärt, er wäre mit einem Ergebnis mit einem 3er vorn zufrieden …

Zuletzt hat er gesagt, sein Ziel sei ein Ergebnis von 34 Prozent plus. Ich führe diese letzte Aussage Mattles darauf zurück, dass die ÖVP interne Umfragen mit einer Bandbreite von bis zu 34 Prozent hat. Mattles Zahlenspiele waren strategisch klug, weil er damit die Botschaft ausgesendet hat: Die Aufholjagd gelingt! Er wollte damit die eigenen Leute mobilisieren.

Toni Mattle wurde auch nie müde zu betonen, er habe die ÖVP von Günther Platter übernommen, als sie bei 29 Prozent lag …

Wie gesagt, es war strategisch gut, diese Zahlen zu lancieren.

Eine ÖVP, die auf unter 30 Prozent zurückfällt, schließen sie aus?

Stimmungsmäßig kann ich mir das nicht vorstellen. Nein, dass die ÖVP in einem Land wie Tirol nur mehr weniger als ein Drittel der Stimmen bekommt, das kann ich mir nicht vorstellen.

Warum nicht?

Die ÖVP hat in 277 Gemeinden Ortsorganisationen, sie ist am besten aufgestellt, sie hat die Wirtschaft und den Bauernbund im Rücken. Gerade der Bauernbund ist massiv strukturiert, vor allem in den ländlichen Gemeinden. Dann kommen noch die Touristiker hinzu, die Wirtschaftstreibenden … Bei den Bürgermeister-Wahlen hat die ÖVP mehr als 230 Bürgermeister erreicht. Vor diesem Hintergrund ist es für mich unvorstellbar, dass die ÖVP – trotz schlechter Stimmungslang, trotz des verunglückten Wechsels von Platter zu Mattle – auf unter 30 Prozent fällt. Wenn dem so sein sollte, dass wäre das ein Erdbeben.

Aber Mattle hat selbst gesagt, dass er bei 29 Prozent gestartet sei, was macht Sie glauben, dass er die ÖVP nach oben gebracht hat?

Das mit den 29 Prozent war Mattles Erzählung.

Toni Mattle (Foto: Land Tirol/Die Fotografen)

Die 29 Prozent hat Mattle erfunden?

Nein, die 29 Prozent waren Mattles Erzählung, es war die veröffentlichte Meinung, die diese Zahlen immer wieder mit verschiedenen Umfragen ins Spiel gebracht hat. Mit den Umfragen ist es so eine Sache, Umfragen sind Momentaufnahmen, die sich innerhalb von wenigen Tagen ändern können.

Sie glauben, Mattle wollte mit der 29-Prozent-Geschichte die eigenen Wähler mobilisieren …

Ja, bestimmt, vor allem die Zweifler in den eigenen Reihen. Es mag Umfragen mit Schwankungsbreiten bis auf 29 Prozent gegeben haben.

Laut den letzten Umfragen liegt die ÖVP bei 35 Prozent mit einem Potential von bis zu 39 Prozent.

Richtig. Aber wie gesagt: Wir befinden uns jetzt in einer Blase, wir sind von den Umfragen geblendet. Daher sage ich noch einmal: Niemand weiß, wie die Wahl am Sonntag wirklich ausgehen wird.

Käme die ÖVP tatsächlich auf 34 Prozent, dann wäre dies immer noch ein zweistelliges Minus, 2018 erreichte die ÖVP mit LH Platter und dank der Unterstützung durch Sebastian Kurz über 44 Prozent …

Ja, das Neue an der Situation ist: Die ÖVP wird die Champagner-Korken knallen lassen, wenn sie „nur“ 10 Prozent verliert. Der letzte ÖVP-Grande, der 10 Prozent verloren hat – Herwig van Staa im Jahr 2008 –, musste gehen …

So ändern sich die Zeiten …

(lacht) Genau. Wenn die ÖVP 10 Prozent verliert, dann wird es heißen: Nur 10 Prozent verloren, juchui!

Warum ist die ÖVP in Tirol so tief abgestürzt? Ist das der Kurz-Effekt?

Lassen wir den Sebastian Kurz und die Kurz-Effekte mal weg. Ich denke, dass die 40 Prozent die Oberkante für die ÖVP in Tirol im neuen demokratischen Umfeld mit sechs Parteien sind. Bei den Wahlen 2018 hat der Kurz-Effekt der ÖVP wahrscheinlich die 4 Prozent plus gebracht. Der Absturz hat meines Erachtens mehrere Ursachen …

Welche?

Das negative Gespür hat einmal mit der Krise zu tun, von Covid bis hin zur Teuerung. Ein zweiter Punkt, der mit dem ersten Punkt einhergeht, ist die hohe Politikverdrossenheit. In unserer Umfrage haben 57 Prozent der Befragten gesagt, dass sie mit dem politischen System in Tirol unzufrieden sind. Das ist eine wichtige Kernbotschaft. Ein vierter Punkt ist der völlig misslungene Übergang von Platter auf Mattle. Die ÖVP hat es nicht geschafft, einen geordneten Übergang von Platter auf seinen Kronprinzen zu gewährleisten …

Günther Platter mit Toni Mattle (Foto: FB/Mattle)

Platter hat auch keinen Nachfolger aufgebaut …

Genau, das war Platters große Schwäche. Und als fünfte Ursache für das negative Gespür würde ich sagen, dass die ÖVP zu spät agiert und nicht eingesehen hat, dass es schwierig ist, neue Herausforderungen mit alten Gesichtern lösen zu wollen …

Mattle ein altes Gesicht?

Es gibt in allen Lebensbereichen, ob im Fußball oder in der Politik, den Wow-Effekt. Wow, das ist ein guter Fußballer! Haben Sie jemals gehört, das jemand gesagt hat: Wow, der Mattle ist ein guter Mann!?

Nein.

Eben. Mattles größtes Problem ist, dass er nett und zuvorkommend ist.

Das macht ihn uncharismatisch?

Nein, Toni Mattle ist ein Charismatiker. Aber das allein ist zu wenig. Sein Charisma geht auch darauf zurück, wie er seinerzeit als Bürgermeister von Galtür die Geschichte mit dem Lawinenunglück gemanagt hat. Da hat der Toni Mattle alles richtig gemacht. Aber weder als Landtagsabgeordneter noch als Landesrat hat Mattle etwas gemacht, wo man sagen könnte: Wow, der Toni! Wow, das ist ein Politiker! Toni Mattle ist keine Nummer in der ÖVP …

Eine graue Maus?

Nein, ich würde eher sagen, er ist ein unbeschriebenes Blatt.

Markus Abwerzger (Foto: FPÖ Tirol/FB)

Hat der Freiheitliche Markus Abwerzger Chancen, Landeshauptmann von Tirol zu werden?

Wenn die ÖVP unter die 30 Prozent rutschen würde, dann wäre das ein Erdbeben. Aber wie soll jemand Landeshauptmann werden, wenn ihn niemand zum Landeshauptmann wählt? Mit anderen Worten: Wenn die FPÖ die ÖVP überholen sollte, dann wäre das ein Erdbeben und ein Tsunami in Kombination.

Die Freiheitlichen liegen laut den letzten Umfragen zwischen 14 und 18 Prozent, 2018 erreichten sie 15,5 Prozent …

Die FPÖ hat wie die ÖVP ein Problem damit, die Leute zu mobilisieren. Die Landeshauptmann-Ansage Abzwergers war strategisch wahnsinnig geschickt. Denn die Botschaft war: Ich fordere den Toni Mattle zum Zweikampf heraus. Damit haben die Blauen die ÖVP unter Druck gesetzt, die ÖVP ist darauf eingestiegen, auch in der Hoffnung, ihre Wähler und Zweifler damit mobilisieren zu können. Aber dass jemand, der nicht von der ÖVP ist, Landeshauptmann in Tirol ist, kann man wohl ausschließen.

Ist eine schwarz-rote Koalition wahrscheinlich?

Damit sich so eine Konstellation ausgeht, müsste die ÖVP um die 34 Prozent der Stimmen bekommen und die SPÖ 20.

Derzeit liegt die SPÖ laut Umfragen bei 14 bis 18 Prozent …

Eine Koalition braucht 19 Mandate im Landtag. Die SPÖ hält derzeit sechs Mandate. Wenn die SPÖ ihr Ergebnis von 2018 hält, dann müsste die ÖVP – damit sich eine schwarz-rote Regierung ausgeht – 13 Mandate erreichen, vier weniger als sie jetzt hat. Dafür braucht es 33 oder 34 Prozent der Stimmen. Aber, wie gesagt, es ist dies eine von Umfrageergebnissen dominierte Einschätzung. Ob sie wirklich eintritt, wissen wir nicht.

Sie kennen die Stimmung in Tirol …

Stimmungsmäßig traue ich mich zu sagen: Die ÖVP wird Stimmen verlieren, die SPÖ und FPÖ können Stimmen gewinnen, die Grünen stagnieren …

Wahlkämpfer Toni Mattle (Foto: FB/Mattle)

Die Grünen liegen laut Umfragen zwischen 8 und 12 Prozent, 2018 hatten sie knapp 10,7 Prozent erreicht. Die Liste Fritz und die Neos liegen laut Umfragen respektive zwischen 5 und 7 bzw. 7 und 9 Prozent.

Diese beiden Parteien dürften eher profitieren, weil die regierende ÖVP Stimmen verlieren wird. Von den Stimmenverlusten der ÖVP werden die Grünen eher nicht profitieren, da sie selbst mit der ÖVP in der Regierung gesessen haben. Die Kleinen werden also gewinnen …

Die No-Vax-Partei MFG schafft den Sprung in den Landtag?

Das bezweifle, auch weil der MFG das Thema abhanden gekommen ist. Sie sagen zwar, sie hätten auch andere Themen, aber diese Themen im bürgerlichen Bereich sind bereits besetzt, im rechten Spektrum von der FPÖ, im linken Spektrum von der SPÖ und den Grünen.

Toni Mattle hat eine Koalition mit der FPÖ ausgeschlossen.

Mattle ist charakterfest, mit ihm wird es keine schwarz-blaue Koalition geben. Aber sollten sich die Voraussetzungen ändern – sprich: sollte sich nur mit der FPÖ eine Koalition ausgehen und Mattle über Nacht nicht mehr Parteichef sein –, dann könnte es auch eine schwarz-blaue Koalition geben. In der Politik gilt bekanntlich das Prinzip: Sag niemals nie!

Interview: Artur Oberhofer

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (3)

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  • andreas

    Platter hätte sofort zurücktreten und Mattle einsetzen müssen, damit dieser vom Amtsinhaberbonus profitiert, den Absturz der ÖVP in Tirol hat nämlich er mit seiner Freundlwirtschaft zu verantworten.

    Der Partei hat er damit keinen Gefallen getan und dem Mattle noch weniger, aber anscheinend tun sich Altlandeshauptmänner aus Nord- und Südtirol grundsätzlich schwer, dem Nachfolger etwas zu gönnen und ihn zu unterstützen.

  • leser

    Warum sollte nordtirol eine Ausnahme sein von der Situation und der Tatsache, dass es noch nie so eine schlechte Politik und politischen Exponenten gibt
    Italien ist gerade ein paradebeispiel und Vorbild dafür, dass Spitzenkandidaten die Nähe zu Putin suchen und diesen öffentlich mehr oder weniger als opfer hinstellen der sogar noch Beistand benötigt

  • besserwisser

    die tiroler werden dem platter noch nachweinen. war auch ein südtirolfreund.

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