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„Das Gehör ist ein Organ der Seele“

Grigory Sokolov: Das ausschließliche Luxusprodukt russischer Schule (Foto: Luca Guadagnini)

Anmerkungen zu den Meisterkonzerten von Arcadi Volodos und Grigory Sokolov beim diesjährigen Busoni-Festival.

Von Hubert Stuppner 

Vor ein paar Jahren hat Alfred Brendel in einem Interpretations-Seminar am Rande des Busoni-Wettbewerbes eine russische Pianistin, die Schumanns „Symphonische Etüden“ vorspielte, mit dem Zuruf brüskiert: „Nicht so, das ist keine russische Musik!“ Jedem der Beteiligten wurde bei dieser Zensur klar, wie unversöhnlich stilistische Welten und Vorurteile aufeinander prallten: im Osten brachiale Virtuosität, im Westen raffinierte Ästhetik und Stilsicherheit.

Dieses Vorurteil hat den Fall der Mauer überdauert: Es hat ja auch damit zu tun, dass die führenden Klassik-Interpreten der westlichen Hemisphäre – von Gulda bis Brendel, von Arrau bis Argerich, von Benedetti Michelangeli bis Pollini, das schwere russische Repertoire den Russen überließen und sich ausschließlich den Meistern der sogenannten klassischen Tradition widmeten. Umgekehrt legitimierten sich die russischen Interpreten, sobald sie im Westen auftreten durften, mit den virtuosen Konzerten von Tschaikowsky, Rachmaninow und Prokofjew. Emil Gilels, der erst vierzigjährig in den Westen gelangte, debütierte 1955 in Philadelphia mit dem 1. Tschaikowskys-Konzert. Das hat sich mit den Jüngeren nicht geändert. Der blutjunge Kissin debütierte in Berlin ebenfalls mit dem 1. Tschaikowsky-Konzert. Der frisch gekürte Tschaikowsky-Preisträger Sokolov wurde in London mit einem Dritten Rachmaninow – Konzert berühmt, und etwas später auch der junge Virtuose Volodos mit demselben „Elefanten-Konzert“ in Berlin.

Doch so wie Gilels und Richter im Westen schon bald Meisterinterpretationen der westlichen Klassiker – Beethoven, Schubert, Schumann –vorlegten, taten es auch deren jüngere Nachfolger: Ashkenazy, Kissin, Sokolov und Volodos. Sie alle, ausgewiesene Tastenlöwen, stilisierten nach ihren lautstarken Virtuosen-Debuts die westliche Klassik, verfeinerten Schubert und Schumann und ordneten ihr ehemals virtuoses Klavierspiel dem sanften Gesetz der „unendlichen Leichtigkeit“ von klassischer Musik unter. Alle vier leben inzwischen auch im Westen und unterstreichen damit ihre universelle, nicht mehr ausschließlich russisch geprägte Interpreten-Identität, eine Identität, die nun eine doppelte ist: überragende Technik und romantisches Werkverständnis.

Arcadi Volodos: Eine Lectio magistralis schlackenloser Geläufigkeit, Klavierspiel auf samtenen Piano-Pfoten im Chiaro-Scuro-Stil.

Die Programme der Meisterkonzerte mit Arcadi Volodos und Grigory Sokolov bestätigen im diesjährigen Busoni-Festival in beeindruckender Weise den Übergang der hochpotenten Virtuosität zu raffinierter klanglicher Sublimation. Volodos’ Schubert-Sonate war diesbezüglich eine Lectio magistralis schlackenloser Geläufigkeit, Klavierspiel auf samtenen Piano-Pfoten im Chiaro-Scuro-Stil und „sottovoce“. Volodos besitzt ein so feines – an seiner früheren transzendentalen Virtuosität geschultes Sensorium  dass er urplötzlich vom Forte zum leisesten Piano schalten kann, so als spielte er auf zwei Manualen. Dazu Schumanns leichte „Kinderszenen“, mit dem ästhetischen Fingerzeig an die Adresse der Boxer am Klavier: „Werdet wie die Kinder!“ Beinahe so naiv, wie einst Anton Bruckner Schubert verstand, als er riet: „Trinkts an einem sternhellen Juniabend im Garten ein Viertel Gerebelten, schauts auf die Glühwürmchen, horchts auf die Grillen – nachher wißts, was ein Schubert-Adagio ist.“

Während Volodos nach der Akademie in St. Petersburg auch in Paris, namentlich bei Jacques Rouvier, studierte, ist Grigory Sokolov, der bereits mit 16 Jahren souverän den Tschaikowsly-Wettbewerb gewann,  das ausschließliche Luxusprodukt russischer Schule. Auf ihn trifft jener Spruch von Pasternak zu, den Heinrich Neuhaus, der Lehrer von Richter und Gilels, in seine „Kunst des Klavierspiels“ schrieb: „Das Gehör ist ein Organ der Seele.“ Sokolovs Spiel kann man im wahrsten Sinne des Wortes als „beseelt“ bezeichnen. Ein Spiel, das von transzendentaler Technik getragen, der Seele Flügel verleiht, ganz im Sinne Schumanns. Schumann, der romantische „Kapellmeister Kreisler“, den beide spielen, ist schließlich auch der Schlüssel zum Verständnis ihrer übereinstimmenden Ästhetik: nämlich ozeanisches Gefühl, Schwärmerei, Enthusiasmus: „Ohne Enthusiasmus wird nichts Rechtes in der Kunst zu Wege gebracht“, schrieb Schumann. Mit Schumann beantworten Volodos und Sokolov schließlich auch die Frage nach der Authentizität von Interpretation. Beide, so lässt es sich aus ihrem originellen Spiel ablesen, verneinen, dass es Werktreue noch gibt.

Durch die verschiedenen Klavierschulen hat sich das Werk gegenüber seinem Schöpfer verselbstständigt. Es entstand Musik über Musik und Interpretation über Interpretation. Der legendäre russische Pianisten-Erzieher Heinrich Neuhaus hat es so ausgedrückt: „Das Werk ist die These, die Interpretation die Antithese“. Dieser Satz, der postmodern klingt, wäre die Antwort auf Brendels eingangs erwähnten Einspruch gegen die Freiheit der Interpretation, die Volodos und Sokolov dahingehend beantworten, dass nur jene Interpreten interessieren, die etwas zu sagen haben und das nicht nur originell, sondern sogar eigenwillig.

Info: Grigory Sokolov tritt heute um 20.30 Uhr im Konzerthaus Bozen auf.  Auf dem Programm stehen 15 Variationen mit einer Fuge Es-Dur über ein eigenes Thema Op. 35 von Ludwig van Beethoven, Drei Intermezzi Op. 117 von Johannes Brahms und Kreisleriana. Fantasien Op. 16 von Robert Schumann.

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