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Die Ukraine und wir

Der Präsident der Bücherwürmer Lana Elmar Locher: Ja, wir hätten es besser wissen können, hätten wir die literarischen Stimmen der Ukraine und der anderen am Kriegsgeschehen beteiligten Länder ernster genommen.( Foto: Fiorentino)

Juri Andruchowytsch, Serhij Zhadan, Taras Prohasko, Boris Chersonskij, Halyna Kruk und Marjana Gaponenko – die wichtigsten Stimmen der ukrainischen Literatur waren bereits bei den Bücherwürmern Lana/Literatur Lana zu Gast. Hätten wir es besser wissen können, wenn wir sie ernst genug genommen, wenn wir genau hingehört hätten? Ja, wir hätten! Ein Beitrag von Elmar Locher.

Seit dem 24. Februar 2022 müssen wir uns den Schreckensbildern aus der Ukraine stellen. Müssen nicht als ein Erleiden, da wir der allpräsenten medialen Vermittlung des Entsetzlichen nicht ausweichen können. Es ist ein ethisches Müssen. Und zugleich stellt sich die Frage: hätten wir es besser wissen können? Ja, wir hätten, hätten wir die literarischen Stimmen der Ukraine und der anderen am Kriegsgeschehen beteiligten Länder ernster genommen, hätten wir genauer hingehört auf die Zwischentöne der Hoffnungen, der enttäuschten Erwartungen wie der angstbesetzen Warnungen dieser Stimmen, denn die Literatur ist der feinste Seismograph, der noch die kleinsten Veränderungen gesellschaftlicher Entwicklungen und kaum wahrnehmbarer Erschütterungen verzeichnet.

Juri Andruchowytsch in Lana: Putin aber kauft man mit viel substantielleren – geopolitischen Dingen: Tschetschenien, Weißrußland. Noch habe ich nicht gesagt und der Ukraine.

Und seit 2007 bis heute waren und sind diese Stimmen bei den Bücherwürmern Lana/Literatur Lana zu hören. So lasen: Juri Andruchowytsch (aus Iwano-Frankiwsk, ehemals Stanislaw oder Stanislau, 2010 u. 2011), Serhij Zhadan (Charkiw, 2007 u. 2010), Taras Prohasko (Iwano- Frankiwsk , 2009). Dazu kommen noch Boris Chersonskij (Czernowitz, später Odessa, 2010), Halyna Kruk (Lwiw-Lemberg, 2014) und Marjana Gaponenko (Odessa, nunmehr Mainz u. Wien), die aus ihrem Roman Wer ist Martha?(2013, 2. Aufl. 2014) las (2015).

Und Serhij Zhadan hält in seiner kurzen Kolumne der Zeit vom 7. April 2022 zu den neuen Tagesabläufen eines Schriftstellers aus der Ukraine fest: Mein Tagesablauf und der meiner Freunde ist in diesen Wochen nahezu gleich: Abends sammeln wir die Hilfsanfragen (Medikamente, Essen, Wasser, warme Kleidung, Tiernahrung), am Morgen packen wir alles in Autos und machen uns auf den Weg durch die Stadt. Manchmal gerät ein Auto unter Beschuss. Von meinen ehrenamtlich tätigen Freunden sind auch schon einige gestorben. Gestorben steht lakonisch da, und vom Schreiben in diesen finsteren Zeiten ist nicht die Rede.

Vor allem die Essaybände von Juri Andruchowytsch (Das letzte Territorium 2003, Mein Europa, zusammen mit dem polnischen Autor Andrzej Stasiuk, 2004 und Engel und Dämonen der Peripherie, 2007), alle bei Suhrkamp erschienen, sollten zur Pflichtlektüre für uns werden, wollten wir uns denn etwas genauer mit der Ukraine beschäftigen. Und in seinem Essay Atlas. Meditationen (in: Engel und Dämonen der Peripherie), der wie alle seine Arbeiten um die Entität Ostmitteleuropa kreist, steht am Übergang von Abschnitt 17 zu Abschnitt 18, der erschütternde Satz: Putin aber kauft man mit viel substantielleren – geopolitischen Dingen: Tschetschenien, Weißrußland. Noch habe ich nicht gesagt und der Ukraine. Ende Abschnitt 17, Einleitungssatz Abschnitt 18: Ich habe es noch nicht gesagt, obwohl ich mich verraten fühle. Der Satz ist 2005 niedergeschrieben. Er steht am Ende von Sätzen, die von der Käuflichkeit der Kreml- Herren handeln. Wir haben ihn 2010 gehört, wir hätten ihn ernst nehmen müssen.

Doch der Krieg zeigt auch, dass Belarus und sein Diktator Lukaschenko eine entscheidende Rolle spielen. Die Stimme, die sich im August 2020, nach der manipulierten Wahl, die zu den Unruhen geführt hat, furchtlos in den Chor des Protestes mischte, war die Stimme der Nobelpreisträgerin 2015 Swetlana Alexijewitsch. Wir hatten sie zu den Literaturtagen 2020 nach Lana geladen. Auf Grund der pandemischen Lage und der politischen Situation in Belarus konnte sie das Land nicht verlassen. Sie war uns am 24. August, zur Eröffnung der Literaturtage per Video zugeschaltet. In diesem langen Interview äußert sie sich zur Lage in Belarus insgesamt, zur Aufgabe und ethischen Verpflichtung des Schriftstellers dann. Das Interview hat große Resonanz gefunden: die FAZ hat es besprochen und der Deutschlandfunk hat es in seine Sendung aufgenommen. Es ist einsehbar auf YouTube. Swetlana Alexijewitsch und Hertha Müller (Nobelpreis 2009, auch sie mehrfacher Gast in Lana) haben sich gemeinsam sehr früh für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen.

Serhij Zhadan: Gestorben steht lakonisch da, und vom Schreiben in diesen finsteren Zeiten ist nicht die Rede.

Noch eine zweite Stimme aus Belarus ist für Lana wichtig geworden: Valzhyna Mort, die Kaser-Preisträgerin 2022. 2013 war sie zum ersten Mal in Lana. Die nunmehr in den USA lebende und lehrende Lyrikerin hat 2020 einen neuen Gedichtband vorgelegt, der 2021 bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen ist:  Musik für Tote und Auferstandene. Sieht man heute die Bilder aus den Kriegsgebieten, dann scheinen die Verse diese schon vor zwei Jahren vorweggenommen zu haben: Über diesen Häusern / falten sich Dächer / wie Hände von Toten. Und: Du stirbst im Spital auf einem Laken / so gestärkt und gebleicht / als sei es gewebt aus gebügelten Knochen. […] Von einer spitalweißen Taste zur nächsten / trage ich meine Toten, um sie mit dem Bahrtuch zu bedecken / gewebt aus meiner Musik. Es ist in diesem Lyrikband von der umfassenden Präsenz des Todes und der Toten die Rede. Und im Eröffnungsgedicht Für Antigone, eine Depesche, stehen die Verse, die 2020 erneut vorwegnehmen, was heute Realität geworden: Erst beklagen wir deinen Bruder, / dann zeig ich dir / ganze Wälder unbegrabener Körper. // Wir räumen auf, wie nur zwei Schwestern / aufräumen können daheim: / Kampf den Knochen, die liegen, wie Krimskrams, herum. / Kampf der Asche am Knieknorpelgrund.

Der Körper kehrt wieder, es ist der gestückelte, über die Erde verstreut. Und dieser Körper kehrt auch bei Maria Stepanova wieder. Maria Stepanova gehört zu den wichtigsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur und lebt zurzeit in New York, wo sie als Harriman Writer in Residenc der Columbia University arbeitet. Sie hat 2021 die Literaturtage Lana eröffnet. 2020 ist ihr Gedichtband Der Körper kehrt wieder bei Suhrkamp erschienen. Es ist der tote Körper, der wiederkehrt, es ist zugleich der vielstimmige Körper der Dichtung, der immer aufs Neue sich in die neuen Stimmen des lyrischen Sprechens inkorporiert. 2018 ist ihr erster, grandioser Roman Nach dem Gedächtnis, auch bei Suhrkamp, herausgekommen. Die Kritik spricht von einem neuen Genre, das Stepanova mit diesem Roman begründet, sie spricht von einem Metaroman, der den Erinnerungsspuren nachgeht und zugleich die Möglichkeit des Erinnerns wie Nichterinnernkönnens reflektiert. Am 18. März 2022 hat Maria Stepanova den Essay The war of Putin᾽s Imagination in der Financial Times veröffentlicht. Es ist eine scharfe Abrechnung mit ihm und seinem System, aber die  Analyse mehr als besorgniserregend auch für uns: Im Moment wird eine Entscheidung darüber getroffen, in welcher Art von Welt wir leben werden und in gewisser Weise bereits hineingezogen wurden: Wir existieren und handeln im schwarzen Loch eines anderen [Putins]. (Übersetzung Sasha Dugdale) Und diese Stimme wird wohl für längere Zeit aus einem wie immer bestimmten Ausland zu uns sprechen müssen, ferne einer früheren Nähe.

Boris Chersonskij

Bereits 2013 hatten wir Zakhar Prilepin zu Gast in Lana, der seinen Roman Sankyavorgestellt hat, der 2012 bei Matthes und Seitz in Berlin auf Deutsch erschienen ist. Will man etwas von der postsowjetischen Zeit verstehen, dann sollte man diesen Roman lesen. Die Abschlusszeilen des Romans scheinen auch heute noch zu gelten: Im Kopf bewegten sich, merkwürdig vermischt, zwei Empfindungen: Alles wird gleich, im nächsten Augenblick, zu Ende gehen, und – nichts wird zu Ende gehen, alles wird weiterhin so sein, nur so

Doch geben wir Maria Stepanova das letzte Wort: Im Winter 1918 in Petrograd / Hört die Dichtung nichts mehr, nur noch / Unablässiges Rauschen: / Ein rhythmisches Dröhnen, immer lauter, // Und draußen vor dem Fenster / (endlose Felder, dort liegen und liegen und liegen sie, / die Köpfe im Nacken, / die Zungen verstummt) / Sieht man den Schneesturm, tüllvorhanggleich, / Gibt uns ein Zeichen: das Zimmer ist jetzt leer genug.(in: Der Körper kehrt wieder)

 

Zur Person

Elmar Locher, 1951 in Bozen geboren, studierte Germanistik, Vergleichende Literaturwissenschaft und Linguistik in Wien, München und Innsbruck. 1983-`86 Lehrauftrag an der Universität Innsbruck, 1986-`92 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Trient für Dt. Sprache und Literatur. Von 1992 bis 2016  war er Professor für Germanistik an der Universität Verona. Er ist Präsident der Bücherwürmer Lana.

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