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Traumdeuter der Stubenfliege

Perspectives * ART spaces: Die Container von Fabrik Azzurro laden in der Festung Franzensfeste zu Erlebnissen gegen „die Blindheit des Alltags“ ein.

Container Nummer eins: Ein Sofa lädt zum Sitzen ein, im Rücken eine Reihe von Porträtfotos, auf denen eine Frau in jungen Jahren und  im fortgeschrittenem Alter zu sehen ist. Gegenüber ein wandfüllender Spiegel, in dem sich die Besucher spiegeln. Langsam, ganz langsam, scheint das Bild von Fliehkräften erfasst zu werden. Es wird flüssig, durchsichtig, gibt den Blick auf die Rückseite des Spiegels frei. Gestrüpp überwuchert das Spiegelbild wie ein verwunschener Garten. „Die Zeit steht still. Wir sind es die vergehen“, raunt eine Stimme. Allmählich kehrt das Spiegelbild wie ein Widerhall des schon Gesehenen zurück. War man in einem Zeitloch, hat die Geschichte sich aus der Linearität befreit, um in einen Kreislauf einzumünden, ist der Spiegel eine getarnte Zeitmaschine?  Die Zeit, die hinter dem Spiegel liegt – und somit bevorsteht – übersetzt in ein räumliches vorne und hinten: Das ist mehr als ein trickreiches Spiel mit der Erwartungshaltung der Zuschauer, es lässt das Vergehen des Betrachters im Betrachten seiner selbst vor Augen entstehen und vergehen.

Container Nummer drei: Ein festlich gedeckter Tisch, wertvolle Gläser, kunstvoll gefaltete Servietten auf Porzellantellern und jede Menge höchstwahrscheinlich ungeladener Gäste. Scharen von Stubenfliegen bevölkern das Tischdeko, kreisen an der Decke, es summt wie in einem Bienenstock. Bevor man zur Fliegenklatsche greift, sollte man sich einen Augenblick ihren philosophischen Überzeugungen hingeben und dabei möglicherweise „den Blues des menschlichen Lebens“ erkennen: . „Ständig suchen sie etwas,
und ständig vergessen sie, was genau sie eigentlich suchen …“

Torsten Schilling, Christina Khuen, Kerstin Kahl, Sabine Gamper und Maria Niederstätter: Der Schlaf der Vernunft gebiert Träume und Traumdeuter gegen „die Blindheit des Alltags“.

Szenenwechsel in Container Nummer vier: Geht man noch, oder fliegt man schon? Unter einem azurblauen Himmel stehen zwei Lufträder zum Abflug bereit. Wer in die Pedale tritt, spürt den Wind, taucht in die Wolken ein und auf einmal ist die eigentlich unbewiesene Behauptung, die Menschheit habe immer schon vom Fliegen geträumt, Wirklichkeit. „Wenn du das Fliegen einmal erlebt hast, wirst du für immer auf Erden wandeln,
 mit deinen Augen himmelwärts gerichtet …“ flüstert eine Stimme und mit ihr im Ohr begibt man sich in Container Nummer 5. Dort geht es nicht himmel- sondern erdwärts in eine Höhle unter Baumwurzeln. „Mutter Erde ist dunkel“ säuselt wiederum eine Stimme und unwillkürlich kommt man sich auf der Couch der Psychoanalyse vor, die die Erde zur Mutter erklärt hat. Die Wurzeln von unten zu betrachten kann mal Prophetie, mal Wunscherfüllung, jedenfalls Traum sein, erst recht, wenn durch das Wurzelwerk hindurch die Sterne aufblitzen. Die Welt des Traums ist eine je eigene, während die Wachheit oberhalb der Wurzeln allen gehört.

Der Schlaf der Vernunft gebiert Träume und Traumdeuter gegen „die Blindheit des Alltags“. So definieren Kerstin Kahl, Christina Khuen und Torsten Schilling des Kulturvereins Fabrik Azzurro ihre Ausstellung „perspectives * ART spaces“ in der Festung Franzensfeste. In fünf von der Firma Niederstätter zur Verfügung gestellten Containern inszeniert das bereits seit mehreren Jahren statthabende ProjektAbenteuer und Perspektivenwechsel für alle Sinne. „Fabrik Azzurro gibt uns eine Bühne, um unsere Fantasie auszuleben“, erklärt Sabine Gamper, die das Projekt als Kuratorin in seiner Entstehung beraten hat, „in den Containern werden Grenzen aufgebrochen, es tun sich Tiefen und Weiten auf, Welten, die sehr viel größer sind, als die Container selbst.“

Immersive Kunst könnte man das nennen, wenn einem jemand erklären könnte, was genau mit dieser Formel gemeint ist. Statt wie in typischer Kunstbetrachtung in kritischer Halbdistanz zu verharren, taucht man in die Räume und Bilder ein, nimmt simultan statt sukzessiv wahr und geht am Ende überwältigt hinaus. Potentiell ist zwar jede Ausstellung eine begehbare, immersive, doch ohne den Abstand zwischen Bild und Betrachter ist ein Kunstwerk überhaupt nicht als solches wahrnehmbar. In den Containern hingegen begibt man sich in Räume, in denen  die Gesetze der Außenwelt zugunsten einer Welt unbegrenzter Möglichkeitenaufgehoben sind. Man geht hinein und schon ist man mittendrin.

Mittendrin in einem Wasserfall, durch den man,durchschreiten kann und jäh auf weichem Sand steht. Wer hatte nicht schon einmal den Wunsch zu sehen, wie ein Wasserfall von der Rückseite aussieht und dabei Sirenengesang zu lauschen: „Die gleiche Woge wird uns dunkel treiben, Und gleiche Träume trinkt der Kuss vom Munde.“ (Heinrich Schwazer)

Die Container sind bis 29. Mai in den Innenhöfen der Festung Franzensfeste zu sehen.

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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