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Soll man Kinder impfen?

In welchen Fällen sind Kinderimpfungen sinnvoll? Erreicht man die Herdenimmunität auch ohne die Durchimpfung der Teenager? Sind Nasenflügeltests für Kinder wirklich eine Tortur? Fragen an den ehemaligen Neonatologie-Primar Hubert Messner.

 

TAGESZEITUNG Online: Herr Dr. Messner, die EMA lässt den BioNTech/Pfizer-Imfpstoff für 12- bis 15-Jährige zu. Einmal grundsätzlich: Was spricht dafür, Kinder und Jugendliche gegen Corona zu impfen?

Hubert Messner: Grundsätzlich ist eine Zulassungserweiterung der Impfung gegen Covid-19 für Kinder und Jugendliche zu begrüßen, besonders beim Vorhandensein von Risikofaktoren oder von bestimmten Situationen bei chronischen Erkrankungen. Auch Jugendliche können krank werden. Die Nutzen- und Risikoabwägung ist dabei aber genau zu prüfen..

Die Situation ist sehr verworren: Die Politik drängt zum Impfen von Teenagern, die Staatlichen Impfkommissionen sind eher skeptisch, die Wissenschaft uneins: Wie sieht ihre Risiko-Nutzen-Abwägung aus?  

Es ist genau diese verworrene Situation, die für Unsicherheit und Misstrauen sorgt. Die Wissenschaft und die Impfkommissionen sollten die Empfehlungen geben und die Politik diese dann umsetzen – und nicht umgekehrt. Die Datenlage ist zur Zeit noch nicht ausreichend, um für diese Altersgruppe ganz allgemein die Risiken einer Corona- Erkrankung gegen mögliche Risiken der Impfung abzuwägen.

Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission in Deutschland, Thomas Mertens, hat das Dilemma mit folgender Frage umschrieben: Ist das Risiko der Erkrankung geringer als das der möglichen Nebenwirkung einer Impfung? Es würden schließlich, so Mertens weiter, keine Bonbons verteilt, sondern es werde ein medizinischer Eingriff vorgenommen. Wie würden Sie die Frage beantworten?

Für Kinder und Jugendliche ist der Schweregrad einer Infektion, die Komplikations- und Sterberate im Vergleich zu Erwachsenen viel geringer und folglcih auch der Nutzen einer Impfung im Anbetracht von eventuellen Nebenwirkungen, die bei jedem medizinischen Eingriff gegeben sein können. Dennoch haben Jugendliche ein Recht auf die Erhaltung ihrer Gesundheit, und das kann den Schutz durch eine Impfung einschließen.

Die Wissenschaft ist sich uneins. Es gibt die, die sagen: Kinder seien biologisch gesehen keine kleinen Erwachsenen. Es reiche also nicht, eine Impfdosis einfach an die Körpergröße oder an das Körpergewicht anzupassen, für jedes Medikament seien eigene Studien ein der jungen Altersgruppe notwendig. Für den Antrag auf Zulassung für 12- bis 15-Jährige hat BioNTech/Pfizer nur an 1131Teenagern Tests mit dem Vakzindurchgeführt. Ist das genug?

Kinder sind keine kleine Erwachsenen, die verschiedenen Studienphasen müssen deshalb auch bei ihnen durchgeführt werden, um eine sichere und effektive Dosierung, Sicherheit  und Wirksamkeit des Impfstoffes zu garantieren. Die vergleichbare geringe Anzahl an Studienteilnehmern beruht auf die Erfahrungswerte, die bei den Jugendlichen über 16 Jahren in anderen Ländern gemacht worden sind.

Würde es Sinn machen, zunächst nur chronisch kranke Kinder zu impfen?

Das macht Sinn. Chronisch kranke Kinder mit Herz- und Lungenerkrankungen, mit Trisomie 12 und seltenen Erkrankungen haben ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf im Rahmen einer Corona-Infektion. Es geht in diesem Sinne um ihren Selbstschutz, und deshalb müssen wir für sie ein Impfangebot haben.

Die Politik in Italien argumentiert in Sachen Teenager-Impfung, man könne den Herdenschutz nur erreichen, wenn man auch diese Altersgruppe impft. Aber sollte es bei einer Impfung nicht so sein, dass es prioritär um den individuellen Schutz des Menschen geht, der die Impfung bekommt. Wenn ja: Bei Kindern greift das Selbstschutzargument aber nicht, denn sie erkranken deutlich seltener als Erwachsene an Covid-19. Also?

Foto: LPA/ 123rf

Die Mehrzahl der Kinder hat einen asymptomatischen oder milden Verlauf. Sie infizieren sich aber gleich häufig wie Erwachsene, erkranken dabei seltener, können aber die Krankheit trotzdem übertragen. Die Impfung dient also nicht nur dem individuellen Schutz des Kindes, sondern auch dem Schutz der Erwachsenen vor Übertragung und Krankheit. Für den Herdenschutz können sie aufgrund der hohen Anzahl an der Gesamt-Bevölkerung von Bedeutung sein.

Können Sie nachvollziehen, dass viele Eltern zwar losrennen, um sich selbst impfen zu lassen, dass sie aber dann, wenn es darum geht, das eigene 12-jährige Kind zu impfen, Bauchschmerzen bekommen?

Aufgrund der derzeitigen dünnen Datenlage und der damit zusammenhängenden Informationen kann ich das nachvollziehen. Man darf dabei aber nicht die Folgen einer Covid-19-Erkrankung bei Kindern außer Acht lassen.

Aus England gibt es Studien, wonach Kinder und Jugendliche deutlich davon profitieren, wenn Ältere geimpft sind und wenn in Schulen häufig getestet wird. Die Impfung der Erwachsenen scheint  den Ping-Pong-Effekt zwischen Schulen und Haushalten zu unterbrechen. Würde das nicht reichen?

Die Annahme, dass Kinder vor einer Covid-19 Erkrankung vor allem durch das Impfen der Erwachsenen geschützt werden können und dass damit der Ping-Pong-Effekt unterbrochen werden kann, ist als solche für mich falsch. Dazu müssten sich alle Erwachsenen impfen lassen und die Varianten eingegrenzt werden. Das häufige Testen hingegen ist ein guter Baustein für eine Prävention.

Italiens Gesundheitsminister Speranza sagt, eine flächendeckende Impfung der 12- bis 15-Jährigen sei die Voraussetzung dafür, dass der Schulbetrieb im Herbst wieder problemlos vonstatten gehen könne. Ist das ein vertretbares Argument?

Verschiedene Statistiken und Daten im Rahmen von Nachverfolgungen zeigen, dass ein Schulbesuch an und für sich auch ohne Impfung bei einer konsequenten Umsetzung der Hygienemaßnahmen weitgehend gefahrenlos erfolgen kann. Es ist nicht die Schule an sich das Problem, es ist der Weg zur Schule und das Drumherum.

Die Herdenimmunität würde man wahrscheinlich auch ohne eine Durchimpfung der Kinder erreichen, indem sie sich beispielsweise infizieren.

Kinder und Jugendliche nur deshalb zu impfen, um eine Herdenimmunität zu erreichen, finde ich genauso problematisch, wie sie einer Infektion auszusetzen. Der Ausgang einer solchen ist offen. Um sie aus der durch die Impfung angestrebten Herdenimmunität herauszunehmen, muss auf der anderen Seite die Impfbereitschaft und damit die Impfquote unter den Erwachsenen ansteigen.

In Deutschland hat Gesundheitsminister Jens Spahn angekündigt, dass er Kindern und Jugendlichen auch ohne allgemeine Empfehlung der STIKOK ein Impfangebot machen wolle, falls die EMA grünes Licht erteile. Die individuelle Entscheidung könnten dann die Eltern mit ihren Kindern und den Vertrauensärzten treffen. Ist das ein kluger Weg?

Unabhängig von der EMA-Entscheidung sollte sich ein Politiker auf seine Impfkommission verlassen bzw. nach deren Empfehlungen handeln. Ein Impfangebot dann auf individueller Basis zu machen finde ich aber grundsätzlich angebracht. Eine gute Kommunikation und eine Risiko-Nutzen-Abwägung mit dem Vertrauensarzt ist für die Entscheidungsfindung dabei wichtig.

In Italien gibt es Befürworter einer Impfpflicht für Teenager. Würden Sie eine Impfpflicht, so wie es sie bereits für das Sanitätspersonal gibt, befürworten?

Nein. Ich finde eine Impfpflicht in diesem Rahmen vollkommen kontraproduktiv und ethisch nicht vertretbar, besonders aufgrund der derzeitigen Datenlage, sei es was den Impfstoff, sei es, was die Infektionszahlen und das epidemiologische Geschehen betrifft. 

Falls der politische Plan durchgezogen wird, dass Heranwachsende nur durch Impfung oder nachgewiesene Genesung ihre Freiheiten zurückbekommen, könnte dies viele Familien, die in Urlaub fahren oder Restaurants besuchen wollen, unter Druck setzen,

Die Impfung darf nicht als moralisches oder gesellschaftliches Druckmittel verwendet werden. Nur den Geimpften bzw. Genesenendie Freiheiten wieder zurückzugeben  – Kinder haben häufig einen symptomlosen Verlauf und fallen damit durch den Rost –, finde ich nicht angemessen. Eine Priorisierung des Impfangebotes an die Kontaktpersonen (Lehrer, Erzieher, Eltern ) ist dabei deutlich sinnvoller, wie auch die Sensibilisierung der Jugend .

Es gibt Mediziner, die sagen, eine Kinderimpfung sei – weil zunächst nur fremdnützig – ethisch nicht vertretbar. Die angesehene deutsche Medizinethikerin Alena Buys spricht sich für eine Impfung von Jüngeren aus. Ihr Argument: 12- bis 15-Jährige möchten selbst einen Schutz haben. Denn auch bei Jugendlichen gebe es schwere Verläufe und das Long-Covid-Syndrom. Können Sie diese Ansicht teilen?

Ich kann die Überlegungen von Frau Buys nachvollziehen, das Kind bzw. der Jugendliche muss aber in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden. Das Long Covid-Syndrom kann nämlich auch Jugendliche trotz milder oder asymptomatischer Krankheitsverläufe treffen.Verschiedene Studien sprechen von einer Inzidenz von 7-15%. Das ist ein tragendes Argument für eine Impfung.

Foto: WK

In Südtirol behalten vier Prozent der Eltern ihre Kinder daheim im Fernunterricht, weil sie im Nasenflügeltest eine Tortur oder eine Gefahr für ihre Kinder sehen. Können Sie das nachvollziehen?

Das kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Kinder leiden nämlich am deutlichsten und wahrscheinlich auch am nachhaltigsten unter den durch die Pandemie bedingten Einschränkungen. Der Test ist nicht invasiv und kann von den Kindern selbst durchgeführt werden, fördert ihre Autonomie und ihr Selbstvertrauen und gibt ihnen ein bisschen vom sozialen Leben zurück.

Spielt man mit dem sanften Druck in Sachen Kinderimpfungen nicht auch den vielen Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern in die Hände?

Dem ist sicherlich so und Impfungen sind seit jeher die „Mutter“ der Verschwörungstheoretiker. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden einfach verworfen, es wird nur mit Emotionen gehandelt und für den vermeintlichen Kontrollverlust jemand anderer verantwortlich gemacht. Es geht um die Aufrechterhaltung von Mythen.

Moderna untersucht bereits in einer klinischen Studie die Wirksamkeit und Verträglichkeit ihres Impfstoffes an knapp 7.000 Kindern zwischen 6 Monaten und 11 Jahren. Auch BioNTech/Pfizer hat eine Studie laufen. Gehen Sie davon aus, dass künftig auch Unter-12-Jährige gegen Covid-19 geimpft werden?

Die Studien dazu laufen und deshalb ist eine Aussage dazu verfrüht.  Aber eine Eins-zu-eins-Übertragung von einem Erwachsenenimpfstoff auf kleine Kinder ist nicht möglich; das Immunsystem der Kinder reagiert auf Impfstoffe anders als das von Jugendlichen bzw. Erwachsenen. Es braucht also dazu eigene fundierte Studien. Erst danach könnte man eine Impfung für Kinder mit Risikofaktoren andenken.

Interview: Artur Oberhofer

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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