Können Frauen komponieren?

Clara Schumann brachte 6 Kinder zur Welt, versorgte den Mann in der Nervenheilanstalt und hatte noch die Kraft, neben der Karriere als Pianistin auch kompositorisch produktiv zu sein
Mit abfälligen Bemerkungen über weibliche Komponistinnen haben männliche Musiker früherer Zeiten nicht gespart. Doch die „Musikgeschichte der Frauen“ listet Hunderte von Komponistinnen aus 800 Jahren auf, darunter sehr bekannte und erfolgreiche. Betrachtungen zur Emanzipation der Komponistinnen in der Neuen Musik von Hubert Stuppner
Eine Gender-Diskussion in Bezug auf das Kompositionstalent von Frauen ist allemal ein riskantes Unterfangen. Denn wenn es wahr ist, dass wir als Geschlechter grundverschieden sind, ist es auch erkenntnistheoretisch unwahrscheinlich, dass wir uns in dieser Sache einig werden können. Der Dialog zwischen den Geschlechtern ist außerdem von zahlreichen voreingenommenen und abfälligen Bemerkungen berühmter männlicher Musiker belastet, sodass es schwer ist, glaubwürdig die frühere kategorische Ablehnung weiblicher schöpferischer Originalität wiedergutzumachen.
Einige wurden für ihre Frauen-Skepsis schon zu Lebzeiten bestraft. So Gustav Mahler, dem seine Anweisung an die Braut Alma Schindler, in der Ehe mit dem Komponieren aufzuhören, kein Glück gebracht hat. Richard Strauss hat sich ebenfalls den Zorn der Feministinnen eingehandelt, als er kategorisch der Meinung war: „Komponieren ist nun einmal Männersache, und daran ist nicht zu rütteln.“ Noch drastischer Hans von Bülow, der Wagner-Assistent, dem in der Komposition nach eigenen Worten „alles was nach weiblicher Emanzipation schmeckt, verhasst“ war. Wofür man in seinem Fall allerdings Verständnis haben muss, wurde er doch von seiner Cosima von heute auf Morgen mit zwei Kindern stehen gelassen, weil diese sich, „einer inneren Stimme folgend“ mit einem wahren Genie, nämlich mit Wagner zusammentat.
Was bei von Bülow den Wechsel von den Wagnerianern zu den Brahms-Anhängern nach sich zog, wo ihn Johannes Brahms in Puncto Ablehnung von Komponistinnen sogar noch überbot: „Es wird erst dann eine große Komponistin geben, wenn der erste Mann ein Kind zur Welt gebracht haben wird.“ Das Urteil wiegt umso schwerer, als der treue Johannes Clara Schumann, auch eine Komponistin, verehrte und bewunderte. Eleganter hat sich Adorno, der Ideologe der Avantgarde der Nachkriegszeit, ausgedrückt: „Alle unsere Werke sind ihnen gewidmet, den Frauen, denen Phantasie jedoch abgeht.“

Fanny Henselt, die hochbegabte Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy, zählt, was die Geschwindigkeit bei der Niederschrift von Noten betrifft, nach Mozart zu den größten Begabungen der Musikgeschichte
„Ein Lexikon zur Musikgeschichte der Frauen“ listet Hunderte von Komponistinnen aus 800 Jahren auf, unter ihnen Bekannte und erfolgreiche, wie Clara Schumann und Fanny Henselt, die hochbegabte Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy, der, was Geschwindigkeit bei der Niederschrift von Noten betrifft, nach Mozart zu den größten Begabungen der Musikgeschichte zählt. Fanny Mendelssohn hat eine reiches Oevre von Liedern und Kammermusik hinterlassen. Friedrich Zelter, der sie in Berlin unterrichtete, lobte sie Goethe gegenüber in höchsten Tönen, doch ihre Vater fand eine professionelle Musikerlaufbahn für eine Tochter seines Ranges unschicklich: „Die Musik wird für ihn (Felix) vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Tuns werden kann und soll (…)“
Ein prominentes Beispiel war auch Clara Schumann: Sie brachte 6 Kinder zur Welt, versorgte den Mann in der Nervenheilanstalt und hatte noch die Kraft, neben der Karriere als Pianistin auch kompositorisch produktiv zu sein: Sie schrieb ihr eigenes a-moll -Klavierkonzert, das sie dem ihres Gatten an die Seite stellte, das manchmal zum Beweis genuiner weiblichen Einfälle gespielt wird, aber sich nicht durchsetzen konnte. Warum?
Psychologische Vorbehalte gegenüber komponierenden Frauen
Die Psychoanalyse hat zur Rechtfertigung der Aversion der Männer gegen weibliches Komponieren ein Erklärungsmodell parat, das auf der Interpretation des antiken Mythos das „schlechte Gewissen des Ödipus“ beruht, ein Modell, das die Schuldkomplexe des Sünders ins Feld führt und damit die gesteigerte Theoriebesessenheit der männlichen Kreativität gegenüber der weiblichen erklärt. Anders formuliert: Ödipus sticht sich die Augen aus, weil er heftiger als die Mutter Jokaste von Gewissensbissen geplagt wird und deshalb sich lebenslang die bange Frage stellt „Wie und wieso und warum?“
In der Tat, was die männliche musikalische Veranlagung seit der Antike kennzeichnet, ist – nach-den akustischen Experimenten des Pythagoras und nach Gioseffo Zarlinos Entdeckung der natürlichen Obertonreihe – kopflastige Gedankenarbeit als ethische und ästhetische Rechtfertigung für den Umgang mit dem Unbewussten und Triebhaften. Männliche Komposition ist in der Verschränkung von Praxis und Theorie eine Art alchimistische Suche nach dem musikalischen Stein der Weisen, der den Mann für sein latentes Unglücklichsein tröstet und kompensiert. Das wäre im Sinne des Sophokles-Mythos eine plausible Erklärung für den Narzissmus und Solipsismus der Meister.
Nicht anders als bei den Philosophen, die allesamt männlich und schrecklich einsam waren. Was für ein erbärmliches Leben hat doch Immanuel Kant geführt: ein Leben lang nie aus Königsberg hinaus, nur einmal täglich und zur selben Stunde um den Königsberger Dom herum und bis zum Tod an die bange Frage gekettet: „was ist wirklich wahr?“
Noch schlimmer in seiner Theorie-Verblendung Hegel. Als ihm seine Studenten in Berlin bedeuteten, dass die Wirklichkeit nicht mit seinen idealistischen Theorien übereinstimmen, gab er ihnen zur Antwort: „Umso schlimmer für die Wirklichkeit“.
Dieser Wahrheitsfanatismus hatte in der Geschichte, wie man weiß, böse Folgen. Wenn ich mir Leben und Wirken der Philosophen vor Augen führe, denk ich mir manchmal, dass dieser von Hegel beschworene „Weltgeist“ auch etwas mit der Klassischen Musik zu tun haben muss. Dass er möglicherweise ein Agent des Himmels ist, der auf die Erde geschickte wurde, um das Feinste vom Feinsten der Meisterwerke für das Hochamt der Engel auszusuchen. Dass er, sooft der Allerhöchste Lust auf Symphonien hat, eben vorzugsweise Beethoven, Bruckner, Mahler hört und sich nicht daran stört, dass ihn nur männliche Komponisten ergötzen.
Die Rückkehr der Verkannten: die Revanche der Komponistinnen

Manuela Kerer komponierte ein Streichquartett „über das Lachen“ mit Hang zu Konkretion. (Foto: Ingrid Heiss)
Die frohe Botschaft ist nun, dass sich die kreative Vormachtstellung der Männer zum Vorteil weiblicher Komponisten geändert hat. Kein männlicher Kollege erlaubt sich nun mehr, nicht-komplexe Partituren als „pubertierendes Komponieren“ abzutun.
Ausgangspunkt für diese Wendung ist der Zusammenbruch des theoretischen Überbaus in der Postmoderne. In der Neuen Musik waren es ab der Sechziger Jahre die Amerikaner Cage, Feldman, La Monte Young und Reich einerseits und die Mediationsmusik, die mit Ravi Shankar aus Indien kam, andererseits, die der starren männlichen Orthodoxie des voll durchkalkulierten Seriellen Kunstwerks den Todesstoß versetzt haben. In Europa haben Dieter Schnebel und Luciano Berio, der eine mit seinen „Maulwerken“, der andere mit der „Sequenza per una voce“- mit der Impulsivität der losgelassenen weiblichen Stimme Frauen den Weg zu eigener Kreativität ermutigt haben. Ähnlich wie in New York 1960 Yoko Ono mit Unterstützung von John Cage und La Monte Young mit der sogenannten „Vocals“ Konzeptkunst und Fluxus-Bewegung bahnbrechend Weibliches geschaffen hat.

Helga Plankensteiner evoziert in „Panorama“ eine schöne Aussicht auf konsonante und swingende Gebiete
Zwar ist die Gleichstellung zwischen Komponisten und Komponistinnen noch immer nicht erreicht. Wenn man dem Online-Podcast Listening to Ladies glauben kann, widmeten die Top 89 Orchester in den USA in der Spielzeit 2015-16 lediglich 2 Prozent ihres Programmes Musik, die von Frauen komponiert wurde. Nimmt man jedoch den Erfolgs-Index von Komponistinnen, vor allem in Europa, zum Vergleich, schließen die Komponistinnen inzwischen mit den Männern gleich auf. Namen wie Kaija Saariaho, Galina Ustvolskaja, Sofia Gubaidulina, Chaya Czernowin, Unsuk Chin, Rebecca Saunders, Violeta Dinescu, Younghi-Pag Paan und Olga Neuwirth gehören zum festen Bestand zeitgenössischer Konzerte. Sie als „typisch weiblich“ zu bezeichnen, würde ihr Prestige schmählern, denn nach wie vor gilt für zeitgenössisches Schaffen das Kriterium der Originalität, also ein hoher Grad an Innovation und Unerhörtheit.
Dennoch lassen sich einige stilistische Richtungen als charakteristisch festmachen, die man weniger bei männlichen Kollegen findet: es sind dies minimalistische Neigungen, Formen des Klangkontinuums, Meditations-Stücke und die Art, sich auf außermusikalische Assoziationen und Synästhesien mit originellen Bezeichnungen einzulassen.
Wenn Manuela Kerer ein Streichquartett „über das Lachen“ schreibt oder Sarah Nemtsov in „Tikkun“, die vibrierende Luft vor einem Gewitter inszeniert, oder Helga Plankensteiner in „Panorama“ eine schöne Aussicht auf konsonante und swingende Gebiete evoziert, dann ist das Hang zu Konkretion. In Kaija Saariahos Spektralmusik ist diese Konkretion erklärtes Naturbewusstsein in Musik, in der Weise, dass die symmetrischen Strukturen der Blumen in Noten gesetzt sind. Meredith Monks Musik verwebt ihrerseits Klang, Raum und Bewegung. In der wundersamen „Alice in Wonderland“ -Oper der koreanischen Ligeti-Schülerin Unsuk Chin bedeutet Konkretion die Verschmelzung balinesischer Gamelan-Musik mit der alten Musik Machauts.
Eine besondere Art der Meditationsmusik schuf in Kalifornien die Steve Reich-Mitarbeiterin Pauline Oliveros, nämlich das „Deep Listening“, tief klingende Musik aus dem Bauch, Regenbogenmusik aus dem Einklang der Obertonreihe, oder, wie böse männliche Zungen meinen: „Fingerlutsch-Musik“. Ähnlich die 90-jährige Minimalistin Éliane Radiguez, die mit „L’Ile Re-Sonante“, einen stehenden einstündiger Lavafluss an vollem Orchesterklang komponierte. Ein Schwarm auf der Stelle tretender Klänge im jubelnden H-Dur.
Diese Art monothematischer Meditationsmusik ist auch schon in Europa angekommen, wo 2021 beispielsweise Justé Janulyté , die Vierzigjährige aus Vilnius, mit „Recordare“ für Chor und Orchester eine Klanglava komponierte, die langsam ansteigt und allmählich wieder vom zähflüssigen Zustand in den erstarrten übergeht.
Mit der vollständigen Erforschung der akustischen Stratosphären durch Gérard Grisey und Tristan Murail stehen den Frauen alle Techniken vom Einklang bis zu den Multiphonics zur Verfügung. In der Freiheit, in Soundclouds und Klangwolken hoch hinaus zu fliegen, steht ihnen nun nichts mehr im Wege.
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