Jazz hält jung!
Das Südtirol Jazzfestival feiert heuer seinen 40. Geburtstag. 40 Jahre lang hat es Weltoffenheit und Experimentierfreude nach Südtirol gebracht. 2004 hat es Klaus Widmann gerettet und ein Entdeckerfestival daraus gemacht. Ein Geburtstagsgespräch.
Tageszeitung: Herr Widmann, 40 Jahre Jazzfestival. Wer hätte das gedacht?
Klaus Widmann: Niemand, aber das gilt wohl für alles im Leben. Man beginnt etwas und die Zukunft entsteht dann Schritt für Schritt. Beim Jazzfestival ist es mittlerweile eine 40jährige Geschichte, womit es eines der ältesten Festivals im Land ist. Nur der Busoni-Wettbewerb und die Mahlerwochen in Toblach sind älter. Anfang der 80er Jahre ging es darum, den Bozner Sommer kulturell zu beleben. Mein Vorgänger Nicola Ciardi hatte die nötigen Kontakte zur Stadtpolitik und startete 1982 ganz bescheiden mit einem einzigen Konzert in das Festival.
40 Jahre – das ist fast so alt wie das Zweite Autonomiestatut.
Stimmt. Die Zeit seither ist wie im Flug vergangen, obwohl mir vorkommt, dass ich mehr oder weniger der Gleiche geblieben bin, was natürlich nicht stimmt.
Liegt vielleicht daran, dass Jazz jung hält.
Kann sein. Hoffen wir es.
Don Cherry, Colin Walcott, Nana Vasconcelos, Chick Corea, Bobby McFerrin und Pat Metheny – mit solchen und anderen Wahnsinnsnamen des Jazz wartete das Festival gleich zu Beginn auf.
Wahnsinnsnamen, ja, aber die waren damals ja auch noch eher jung. Sie repräsentierten aber bereits damals den wichtigsten Geist des Festivals, nämlich die Multikulturalität, die Lust auf Neues und Experimentelles, alles Eigenschaften, die auch heute noch ganz oben stehen. Ich denke, das sind die Wesensmerkmale von allen, die Jazz machen oder Jazz lieben. Jazz ist ja eine Musik, die ja im Gegensatz zur Klassik ohne großes Theater rundherum auskommt. Man muss nicht schön angezogen sein, es gibt keine Etikette, es geht nur um das, was in diesem Moment auf der Bühne passiert.
Das authentische Erlebnis, wie man so sagt.
Jeder Jazzmusiker ist ein Komponist. Selbst wenn er Stücke von anderen Komponisten nachspielt, ist immer Improvisation mit im Spiel.
Jeder ein Komponist – ist das das Alleinstellungsmerkmal des Jazz?
Zumindest jeder ernstzunehmende Jazzer. Ein klassischer Musiker oder ein Orchester reproduzieren mehr oder weniger notengetreu, was ein Komponist aufs Blatt geschrieben hat. Auf hohem Niveau, virtuos, aber im Grunde sind es Musikbeamte, um einen harten Begriff zu verwenden. Auch Jazzer können virtuos auf ihrem Instrument sein, aber das steht nicht im Vordergrund. Die Technik steht immer im Dienst des Ausdrucks. Ein Jazzer kann nur ein guter Musiker sein, wenn er einen eigenen Ausdruck findet, sonst fehlt ihm das Entscheidende des Jazz.
Ende der 90er Jahre ist dem Festival die Luft ausgegangen.
Ende der 90er Jahre ist das Festival in der Versenkung verschwunden, nicht wegen der Qualität des Angebots, sondern weil es nicht mehr den Erfordernissen des modernen Veranstaltungsmarktes genügte. Die Gemeinde Bozen, damals die einzige Sponsorin des Festivals, hat auf Klassik gesetzt. Ciardi hat auch die Zeichen der Zeit nicht verstanden: dass man Lobbying machen muss, dass es Werbung und politische Unterstützung braucht. Er war der Überzeugung, dass jede Lira, die nicht in die Musik selbst investiert wird, hinausgeschmissenes Geld ist. Diese Haltung hatte sich einfach überlebt. Dennoch hat das Festival auch in dieser Zeit höchste Qualität geboten. Die New Yorker Avantgardeszene war in Bozen zuhause, in New York hat man das Festival gekannt. Nur hat das hier niemand mitgekriegt.
Ciardi war einer der alten Schule, für den Jazz eine hochintellektuelle Veranstaltung war.
„Non è musica da battere i piedi“ hat er gesagt. Er war sehr streng und hat höchste Maßstäbe an die Musik angelegt. Wenn man zum Jazz mit den Beinen wippen konnte, lag er für ihn schon eine Stufe unter dem Höchsten. Zuviel Emotion für einen Intellektuellen. Mein Zugang war immer freudvoller, einer mit Kopf und Bauch. Als ich das Festival 2004 übernommen habe, war es vollkommen neu aufzubauen. Die Konzerte haben vor 30 bis 40 Besuchern stattgefunden. Das hat richtig wehgetan. Ich wollte auf keinen Fall mitansehen, dass es so einfach aufhört. Am Anfang habe ich das Programm ziemlich breit aufgestellt, indem ich beispielsweise einen Paolo Conte nach Bozen brachte. Mit den Jahren habe ich immer mehr Spaß daran gewonnen, als Veranstalter kreativ zu werden.
Also nicht nur einzukaufen nach der Ex-und-Hopp-Methode…
Nein, sondern Projekte anzustoßen, junge Musiker zu suchen, etwas Eigenes entwickeln, das nur hier stattfindet und nicht bei jedem beliebigen Festival gehört werden kann. Das Internet war eine große Hilfe bei der Recherche, weil ich als Arzt ja nicht ständig unterwegs sein kann. Ich habe junge Leute aus der ganzen Welt geholt und so viel Eigenproduktionen wie möglich angestoßen. Über die Jahre ist das Festival immer mehr zum Laboratorium für neue Entwicklungen geworden.
Ein Entdeckerfestival.
Ein Entdeckerfestival. Dieses Konzept haben viele andere Festivals mittlerweile auf die eine oder andere Weise kopiert. Als ich das Festival übernommen habe, war es mein Traum, dass Südtirol sich einerseits mit den neuesten musikalischen Entwicklungen konfrontiert und das Land sich andererseits mit einem zeitgenössischen Kulturprodukt international behaupten kann. Südtirol ist schön, aber es ist wichtig, dass es sich auch als kulturell fortschrittliches Land präsentiert.
Ein Festival ist eine Komposition.
Kann man so sagen.
Was macht das Südtirol Jazzfestival einzigartig?
Es gibt kein anderes Festival, das so kapillar ein ganzes Territorium abdeckt. Es braucht eine Verwurzelung, denn ohne Verwurzelung im Territorium kann man das internationale Publikum nicht erreichen. Es muss hier akzeptiert sein, damit eine internationale Festival-Atmosphäre entsteht.
Jazz im Blaskapellenland Südtirol – wie findet man dafür Unterstützung?
Jazz ist ein kulturelles Nischenprodukt, die Anbiederung an die große Masse ist gar nicht möglich, aber darum geht es auch nicht. Unser Konzept braucht Unterstützung von Leuten aus der Politik und der Wirtschaft, die das auch verstehen und dabei nicht nur auf Besucherzahlen schauen. Die internationalen Veranstalter beneiden uns um diese künstlerische Freiheit, denn wir müssen im Gegensatz zu ihnen nicht kommerziell planen. Das ist ein enormer Vorteil. Wir können es uns, sei es vom Publikum, sei es von der finanziellen Unterstützung her leisten, nicht Mainstream zu sein. Es kommen viele zu uns, weil sie hier Sachen zu hören bekommen, die sie gar nicht kennen. Natürlich werden wir auch kritisiert für unser Konzept: Ihr tut nichts für lokale Musiker, es ist nur ein Fremdprodukt und so fort.
Was antworten Sie?
Das Jazzfestival ist kein Fremdprodukt, es ist hier für hier entwickelt worden, Konzept und Idee wurden hier geboren. Natürlich kommen die meisten Musiker von außerhalb, aber hier werden sie Teil eines kreativen Ganzen, hier erschaffen sie etwas Neues. Das beste Beispiel dafür ist die Euregio Jazzwerkstatt. Die Werkstattidee ist zentral, weil da lokale Musiker mit ausländischen Gästen zusammenspielen können. Da kommen Inputs ins Land, die die lokale Szene befruchten und weiterbringen. Alles im Zeichen von Weltoffenheit und Experimentierfreude.
Stars sind nicht so Ihr Ding.
Wir hatten viele Stars, es ist kein Problem, die zu bekommen. Wenn man zahlen kann, bekommt man jeden. Ich bin einfach nicht der Typ für Stars. Die Marmolada ist vielleicht der schönste Skiberg weitum, es gibt nichts Schöners als dort durch den frischen Schnee zu fahren. Aber es gehen halt 1000 Leute am Tag dort hinauf. Da ist mir ein abseits gelegenes Tal, das nicht so spektakulär schön ist, aber wo ich meine eigenen Wege finden kann. Das ist für mich Abenteuer. Das gleiche gilt für die Musik. Ich will Neues entdecken und meine Entdeckungen dann mit anderen teilen. Die Rolling Stones waren einmal super, aber wenn man sie jetzt auf der Bühne sieht, sind sie nur mehr museal. Für mich muss Musik lebendig sein und nicht nur Erinnerungen pflegen. Kurz: Nichts gegen Stars, aber das Südtirol Jazzfestival hat ein anderes Profil.
Ein farbenprächtiges Logo mit der mythischen Figur der Europa, die Elektrogitarre spielt, steht symbolisch über der heurigen Jazz
Das hat RobertoTubaro zum Thema des diesjährigen Festivals entworfen. Es geht um Europa, weil wir heuer einen Zyklus abschließen. Wir haben ja in den vergangenen 7, 8 Jahren Europa nach neuen Klängen und jungen Bands durchforstet…
Das begann 2012mit einem Streifzug durch die Jazzlandschaft in der Schweiz …
… und wurde 2013 mit der Präsentation von unorthodoxen Bands aus den beiden Musikerkollektiven Tumult (Niederlande) und COAX (Frankreich) fortgesetzt. 2014 folgte eine „Tour de France“ mit herausregenden französischen Musikerinnen und Musikern. 2015 stellte Südtirol Jazzfestival die britische Avantgarde vor, 2016 die junge Szene aus Österreich und Italien und 2017 den Gegenwartsjazz aus Belgien, Luxemburg und den Niederlanden. 2018 unternahm das Festival eine aufregende Entdeckungstour durch Skandinavien und besuchte 2019 die iberische Halbinsel. 2021 folgte der Konzertkalender dem Lauf der Donau durch Südosteuropa und erkundete entlang dieser Schlagader eines interkulturellen Transitraums eine Musikszene, die sich nicht einfach flussabwärts treiben lässt, sondern selbstbewusst gegen den Strom schwimmt. Mit dieser Art Programmgestaltung und der Auswahl ungewöhnlicher Konzertorte positionierte sich das Südtirol Jazzfestival abseits ausgetretener Pfade als Schaufenster für eine innovative und stilistische entgrenzte Musik.
Zum 40. Geburtstag bringt das Festival das Beste aus Europa nach Bozen.
Auf meiner Reise durch Europa bin ich draufgekommen, wie reich Europa musikalisch ist. Europa ist für mich das neue Amerika. Jazz ist aus der Multikulturalität entstanden, eine Mischung der Kulturen, die in Europa erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts allmählich zur Realität geworden ist. Das hat dem Jazz wieder ein neues Element hinzugefügt. Die erste Welle des Jazz in Europa war noch ziemlich steif intellektuell, aber in den vergangenen Jahrzehnten ist er richtig multikulti geworden: jung, rockig, elektronisch, ethno und so fort. Da fließt alles ein und zusammen.
Gefeiert wird mit einem Best-of-Programm aus den Länderschwerpunkten der vergangenen zehn Jahre.
Dazu haben wir Bands und Solisten, die als „Artist in Residence“ in Südtirol waren, aus vielen europäischen Ländern erneut eingeladen. Die Avantgarde eines ganzen Kontinents stellt sich vor: An über 30 Spielorten in ganz Südtirol bietet das Festival vom 24. Juni bis zum 3. Juli 58 Konzerte an. Schon das Opening am 24. Juni im Kapuzinerpark in Bozen ist ein All-Stars–Programm: An diesem Abend stehen – zum ersten Mal überhaupt – die in London lebende und aus Südtirol stammenden Bassistin Ruth Goller, der britische Saxophonist Soweto Kinch, die französische Sängerin Leila Martial, der niederländische Gitarrist Reinier Baas, der in den USA geborene und in Italien lebende Saxophonist Dan Kinzelman, der slowenische Cellist Kristijan Krajnčan und der finnische Saxophonist Pauli Lyytinen auf einer Bühne. Der experimentelle europäische Jazz trifft sich in Südtirol und entwickelt gemeinsam „neue“ Musik. In Zeiten wie diesen ist das auch eine Friedensbotschaft. Jazz hält den Kontinent zusammen.
Wer ist Ihr absoluter Jazz-Favorit?
Es gibt viele, aber Django Reinhard ist die faszinierendste Gestalt für mich. Er war Zigeuner, ein Genie und praktisch Analphabet. Auf der Gitarre hatte er eine unglaubliche Technik, jeder Satz von ihm ist eine vollkommene Erzählung und nicht einfach etwas Gespieltes.
Sie spielen ja auch Gitarre.
Ja, ein paar Minuten meiner Zeit bekommt auch die Gitarre noch ab. Ein paar Akkorde, die Finger laufen lassen, drei-, viermal die Woche. Das muss sein.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Klaus Widmann, 1953 in Bozen geboren, Schule bei den Franzikanern, Studium der Medizin in Wien, seit 1983 Arzt für Allgemeinmedizin, Gründungspräsident der Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin, von 1998 bis 2001 Präsident der Südtiroler Ärztekammer, langjähriger Sektionleiter des Triathlonclubs Bozen, seit 1983 beim Jazzfestival engagiert, seit 2004 ist er Präsident des Festivals.
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