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„Kriegsgefahr wird nicht erhöht“

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Wie wirken sich schwere Waffenlieferungen und die möglichen NATO-Beitritte auf den Ukraine-Krieg aus? Der Wiener Osteuropa-Experte Alexander Dubowy klärt auf.

Tageszeitung: Herr Dubowy, wie bewerten Sie die aktuelle Lage in der Ukraine?

Alexander Dubowy: Auch wenn sich die meisten Einschätzungen der militärischen Lage im Grunde genommen auf den Satz zu beschränken scheinen, im Osten sei nichts Neues zu vermelden, sollte diese Scheinberuhigung nicht über die Dramatik aktueller Ereignisse hinwegtäuschen. Russland geht wesentlich bedachter, überlegter und langsamer als in den ersten zwei Monaten vor. Aus diesem Grund sollten wir nicht davon ausgehen, dass er Krieg bald zu Ende geht.

In der vergangenen Woche hat sich viel rund um den Krieg getan. Putin hat am 9. Mai beispielsweise eine viel beachtete Rede gehalten. Wie bewerten Sie diese Rede?

Einige Experten sind davon ausgegangen, dass Putin die Generalmobilmachung bei dieser Rede veranlasst. Die befürchtete Eskalation fand nicht statt, die Rede war eher zurückhaltend. Wir sollten allerdings bedenken, dass es sich um eine innenpolitische Rede gehandelt hat, die darauf abgezielt hat, die russische Bevölkerung zu beruhigen und den Schein der Kontrolle über die Situation zu wahren. Hätte Putin die Generalmobilmachung veranlasst, wäre das eine innenpolitisch sehr unpopuläre Entscheidung. Er würde damit seine hohen Zustimmungswerte aufs Spiel setzen. Auch wollte Putin nochmals die Entscheidung zur sogenannten Spezialmilitäroperation rechtfertigen. An dieser Rede war also im Prinzip nichts neu, wir haben alles mehrfach in unterschiedlicher Form gehört. Vor allem hat Putin nach wie vor alle Handlungsoptionen offen.

Inwiefern?

Seine Entscheidungen können jetzt unterschiedlich ausfallen. Wenn er möchte, kann er die Situation eskalieren lassen, er kann sie aber auch beruhigen. Nach wie vor ist alles für ihn möglich.

Der Krieg läuft allerdings überhaupt nicht nach Putins Vorstellung. Die russische Armee kommt nicht voran und muss Rückschläge einstecken…

Ja, das stimmt. Um genau zu sein, kommen die russischen Streitkräfte kaum voran. Der Hauptgrund ist die niedrige Moral der Truppe. Die Soldaten wissen nicht, wofür sie kämpfen sollen und warum der Krieg überhaupt stattfindet. Viele sind ohne ihr Wissen hingebracht worden und vor allem hat die russische Führung zu keinem Zeitpunkt mit einem so starken Widerstand gerechnet – weder von Seiten der ukrainischen Streitkräfte noch von Seiten der Bevölkerung. Dieser Wehrwille ist absolut überraschend und der Grund dafür, dass der Krieg nach wie vor andauert. Die erste Woche war absolut zentral. Als klar wurde, dass Russlands Pläne nicht aufgehen, begannen die Streitkräfte deutlich brutaler vorzugehen, doch auch das hat letzten Endes nichts gebracht. Der Kreml ist von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Die Führung ging davon aus, dass die ukrainischen Streitkräfte schwach und demoralisiert sind, zum Vorbild nahm sich Moskau die Annexion der Krim im Jahr 2014. Damals haben viele ukrainische Streitkräfte den Kampf verweigert und sind auf die russische Seite übergegangen.

Viel gesprochen wurde auch über die möglichen NATO-Beitritte von Schweden und Finnland. Wie sind diese zu bewerten?

Die Beitritte werden keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Krieg haben, sehr wohl aber eine Auswirkung auf die Beziehungen zwischen NATO und Russland. Die Auswirkung ist aber als relativ gering zu bewerten, denn die Beziehungen können kaum mehr schlechter werden. Mit Sicherheit wird ein NATO-Beitritt der beiden Länder nicht zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO führen. Dimitri Medwedew hat vor ein paar Wochen gesagt, dass es keinen Unterschied macht, ob die NATO aus 30 oder 32 Mitglieder besteht, da Russland mit Finnland – im Gegensatz zur Ukraine – keinen Grenzkonflikt hat. Russland wird die bislang geringe Truppenpräsenz im Ostsee-Raum erhöhen. Möglicherweise wird auch der nicht-nukleare Status des Ostsee-Raumes aufgehoben. Letzteres ist aber voraussetzungsreich. Insgesamt dürfte die Kriegsgefahr nicht wesentlich erhöht werden.

Kann man nun aber definitiv sagen, dass die NATO gestärkt aus dem Krieg hervorgehen wird?

Absolut. Russland hat zu Beginn dieses Krieges unter anderem daraufgesetzt, dass die EU und NATO gespalten sind. Moskau wollte die innere Spaltung des Westens dazu nutzen, um für sich regional und international mehr Spielraum zu schaffen. Aufgrund dieses Angriffskrieges kam es aber zum gegenteiligen Effekt. Anstatt die NATO endgültig zu spalten, hat er dem Bündnis ein zweites Leben eingehaucht. Die NATO hat eine neue Existenzberechtigung erhalten. Ironischerweise ist alles, was Putin im Vorfeld befürchtet hat, nun in Erfüllung gegangen. Die NATO-Erweiterung, die Erhöhung der Militärpräsenz an der Ostflanke und die Aufrüstung sind im Grunde genommen beschlossene Sachen. Russland wird auf absehbarer Zeit zum Hauptgegner. Dies selbst dann, wenn Putin nicht mehr Präsident ist. In Zukunft gilt es für Russland eine neue Rolle in Europa zu finden, Freunde hat Moskau jedenfalls keine mehr.

Ein weiterer Aspekt, über den in den letzten Tagen intensiv diskutiert wurde, sind die schweren Waffenlieferungen. Wie beeinflussen diese den Krieg?

Für den Kriegsverlauf sind die Waffenlieferungen enorm wichtig. Schwere Waffen benötigt die Ukraine für erfolgreiche Gegenoffensiven, darunter auch kleinere Offensiven zur Entlastung der Streitkräfte. Ohne schwere Waffen wird es den Ukrainern unmöglich fallen, den Kampf aufrecht zu erhalten. Insgesamt scheinen gewisse westliche Staaten beim Thema Waffenlieferungen von falschen Prämissen auszugehen. Die Überzeugung, dass unser Verhalten die Entscheidungen von Wladimir Putin wesentlich beeinflussen kann, ist falsch. Putin kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt jede beliebige Handlung des Westens als eine unverzeihliche Grenzüberschreitung interpretieren und das zum Anlass für eine Eskalation nehmen.

Die Waffen werden den Krieg also nicht direkt entscheiden?

Die Waffenlieferungen haben einen mittelbaren Einfluss auf den Ausgang des Krieges. Im Kern geht es darum, die Abwehrfähigkeit der Ukraine so weit wie möglich zu stärken. Nach wie vor gilt in diesem Konflikt die kontraintuitive Faustregel: Je länger und entschlossener sich die Ukraine mithilfe der – dringend benötigten – westlichen Waffenlieferungen gegen Russland zu wehren vermag, desto geringer wird der Preis sein, den die Ukraine und letztlich auch der Westen für den Frieden zahlen muss.

Ist das der Grund, weshalb der Krieg nun noch andauern wird?

Die Militäranalysten gehen davon aus, dass der Ukrainekrieg mittlerweile in die Phase des sogenannten Abnutzungskrieges übergegangen ist. Die Kosten jedes einzelnen Kriegstages sind für beide Seiten enorm hoch. Russland kann das nicht lange durchhalten. Irgendwann wird Moskau zum Waffenstillstand bereit sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass es einen Friedensvertrag geben wird. Dafür sind die gegenseitigen Forderungen zu unterschiedlich. Man wird kaum auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Russland verweigert den Abzug aus den besetzten Gebieten, für die Ukraine ist das natürlich absolut inakzeptabel. Auch wenn die Kampfhandlungen beendet werden, besteht fortlaufend immenser Konfliktpotenzial.

Ist es zeitlich absehbar, wann es zu einem Waffenstillstand kommen könnte? Sprich: Wie lange halten Russland beziehungsweise die Ukraine noch durch?

Darüber entscheidet der Kampf um den Donbass, der derzeit noch intensiv läuft. Wenn Russland in den nächsten Wochen Erfolg haben sollte, sind weitere Eskalationen möglich – auch Richtung Süden. Davon ist aber aktuell nicht auszugehen. Eher dürfte sich Russland mit kleineren Eroberungen zufrieden geben und anschließend dazu übergehen, die besetzten Gebiete vor ukrainischen Angriffen zu schützen. Die Situation ist aber derzeit so instabil, dass keine zuverlässigen Vorhersagen getroffen werden können. Allzulange kann Russland den Krieg aber ohne eine Generalmobilmachung nicht durchhalten.

Interview: Markus Rufin

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Kommentare (22)

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  • sigo70

    „Je länger und entschlossener sich die Ukraine mithilfe der – dringend benötigten – westlichen Waffenlieferungen gegen Russland zu wehren vermag, desto geringer wird der Preis sein, den die Ukraine und letztlich auch der Westen für den Frieden zahlen muss.“
    Leider sind die “ Ukraine“ und der Westen nicht die dort lebende Bevölkerung. Derzeit macht es den Anschein, dass die Ukraine und der Westen zu allem bereit sind, um den Preis für Russland so hoch wie möglich zu machen. Das bedeutet dann auch, wenn man schon Gebiete verliert, dass man diese mit schweren Waffen zu zerstören versucht.

  • andreas

    Es gibt durchaus Gründe, warum die Ukraine weder in der EU und noch weniger in der Nato ist.
    Auch durch einen Krieg werden diese nicht ausgehebelt und recht viel dümmer als diese deutsche grüne Außenministerin, welche mit Russland 100 Jahre keine Geschäfte mehr machen will oder diese von der Leyen, welche die Ukraine in die EU aufnehmen will, kann man sich eigentlich nicht verhalten. Aber alles im Sinne von Onkel Sam.

    Eigentlich ein Stellvertreterkrieg der USA und China und die EU spielt die nützlichen hyperaktiven Idioten, welche sich durch Sanktionen mehr selbst als den eigentlichen Gegner schädigt.

    • pingoballino1955

      andreas,da muss ich dir voll zustimmen,leider ist es so und die Vollidioten wollen es nicht verstehen.

    • heracleummantegazziani

      Ich bin zwar häufig deiner Meinung, aber hier lässt du dich absolut von antiamerikanischen Ressentiments treiben. Die USA haben bestimmt viel falsch gemacht auf der Welt, das ist nicht von der Hand zu weisen, aber der USA und der NATO hier den schwarzen Peter zuzuschieben ist Russia-Today-Niveau.
      Es ist ganz klar, wer für den Krieg verantwortlich ist und vor allem aus welchem Grund. Hier muss man nicht nach „Stellvertretern“ suchen.

  • 2xnachgedacht

    kriegsgefahr wird nicht erhöht… (guckma mal) von nicht abschätzbaren kollateralschäden usw. und so fort… sagt er nichts… experten eben…keiner erkennt zusammenhänge….nur den eigenen tunnelblick…
    als wie wenn eine woche nur aus der ersten montagsstunde bestünde… sarkasmus wie immer *off*

  • dn

    Zum Kommentar vom Andreas ist nichts hinzuzufügen. Verlierer ist eindeutig Europa.

    • heracleummantegazziani

      Nein, Europa ist nicht der Verlierer. Die Invasion Russlands hat Europa so zusammengeschweißt wie schon lange nicht mehr. Selbst die NATO ist Gewinner, denn Putin hat dem kränkelnden Bündnis, das letzthin eigentlich keine Aufgabe mehr hatte (wenn man überhaupt weiß, welchen Zweck die NATO erfüllt), wieder Leben eingehaucht.

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