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„Kopieren ist angstfrei“

Kissen aus der Werkstatt der „Patternhouse“-Methode (Fotos © Martina Drechsel)

Wer an einer schweren psychischen Erkrankung leidet, muss häufig einen langwierigen Rehabilitationsprozess durchlaufen, um wieder Fuß in der Welt zu fassen. Die Bozner Designerin Martina Drechsel geht im „Haus Basaglia“ in Meran einen neuen Weg, um den Heilungsprozess zu begleiten und zu stützen.

Hübsch, nein, schön sind die Kissen. Kuschelig, gemütlich und heimelig. Sie sind bunt, spielen mit Farben und einfachen Mustern. Man kann sich wunderbar vorstellen, darauf zu sitzen, zu liegen, zu spielen, zu toben, zu schlafen oder Fernsehen zu schauen. Und sie erzählen Geschichten. Geschichten von Menschen, die nach einer schweren psychischen Erkrankung versuchen, wieder Fuß in der Welt zu fassen und die Düsternis hinter sich zu lassen. Dass sie von psychisch kranken Menschen entworfen und angefertigt wurden, sieht man den Kissen ob ihrer Leuchtkraft und Vielfalt der Farben nicht an.

Rehabilitation, gar Heilung, ist alles andere als einfach und mitunter ein sehr langer Prozess. Psychische Krisen können das Selbstwertgefühl so stark beeinträchtigen, dass die Patienten häufig wieder ganz von vorne anfangen müssen, um sich einfachste Tätigkeiten zuzutrauen. Methoden gibt es einige. Kunsttherapie beispielsweise, das Arbeiten mit Farben und Formen, Malen und Zeichnen, kann helfen, neuen Mut und Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Designerin Martina Drechsel: „Die Patienten machen nicht Kunst, sie gestalten ein Produkt“

Die Bozner Designerin Martina Drechsel geht einen anderen Weg.  Zusammen mit Dr.in Verena Perwanger, Primarin des psychiatrischen Dienstes der Sanitätseinheit Meran, Dr.in Eva Maria Innerhofer, ärztliche Leiterin der rehabilitativen psychiatrischen Einrichtung des Südtiroler Sanitätsbetriebes „Haus Basaglia“ und Evi Pitscheider, Schneiderin und Expertin für textiles Recycling, hat sie das Designprojekt „Patternhouse“ entwickelt, das den Rehabilitationsprozess begleiten und stützen soll.  Im Gegensatz zur Kunsttherapie steht bei Drechslers Methode „Patternhouse“ die Arbeit selbst im Vordergrund. Nichts wird gedeutet oder interpretiert. „Die Patienten machen nicht Kunst, sie gestalten ein Produkt“, sagt Drechsel, und das sei „immer gut.“

Die Methode „Patternhouse“ ist auch keine reine Beschäftigung, „keine Bastelstunde“, deren Wert mittlerweile sowieso angezweifelt werde, sagt Verena Perwanger.  Im Zentrum steht die Entwicklung einer persönlichen Formsprache, die „Patternhouse“-Methode steht für ergebnisoffenes Experimentieren und Arbeiten.

Musterbögen: Den Patient*innen werden Übungsbögen in die Hand gegeben, mit denen sie durch einfaches Kopieren und Kolorieren das Entwerfen von Mustern verstehen und lernen.

Gearbeitet wird mit einfachen Mustern, die leicht zu kopieren sind. Versagensängste kommen damit gar nicht erst auf, denn „Kopieren ist angstfrei“, so Drechsel. Als Bausteine für den Gestaltungsprozess dienen Grundformen und Farben. Leicht anwendbare Handwerkstechniken werden mit Ideen aus moderner und zeitgenössischer Kunst kombiniert. Die Muster werden mit Farbe oder Fäden auf Papier oder Stoff übertragen. Die Auswahl der Farbpalette steht dabei im Mittelpunkt der Gespräche zwischen Mitarbeiter*innen und Patient*innen. Zudem wird jedem Patienten und jeder Patientin der Ablauf der einzelnen Arbeitsschritte erklärt und gezeigt. Eine große Tafel mit der visuellen Darstellung der Arbeitsprozesse hängt in der Werkstatt und unterstützt eine klare Kommunikation.

Den Patient*innen werden insgesamt fünf Übungsbögen in die Hand gegeben, mit denen sie durch einfaches Kopieren und Kolorieren das Entwerfen von Mustern verstehen und lernen. Dies befähigt sie zügig zu eigenem Gestalten. Die Einfachheit der Methode erlaubt und eröffnet viel Raum für Kreativität und eigene Interpretationen im Laufe des Prozesses.

Entwickelt wurde „Patternhouse“  ursprünglich für die internen und externen Patient*innen der im „Haus Basaglia“ integrierten Kreativwerkstatt entwickelt. Das Ziel bestand darin, einen Arbeitsprozess zu entwickeln, der sich unabhängig von handwerklichen Fähigkeiten und Vorkenntnissen, an die verschiedenen rehabilitativen Bedürfnisse der Patient*innen anpassen kann. Dazu gehört das Trainieren von visueller Aufmerksamkeit, räumlichem Denken, Ausdauer, Konzentration, Meinungsbildung, Entscheidungsfähigkeit, Kooperationsbereitschaft, das Erlernen neuer Bewegungsabläufe und Kommunikation.

Die „Patternhouse-Kissen“ werden mittlerweile in Designläden erfolgreich verkauft. Der Erlös aus den Verkäufen dieser Einzelstücke fließt zu 100 Prozent zurück in die Initiative. (Heinrich Schwazer)

Weitere Informationen: Martina Drechsel, [email protected], +39 333 2408314, patternhouse.org

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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