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Das Ereignis

Die 1960er. Anne (rechts) mit den Mitbewohnerinnen im Studentinnenheim

„La scelta di Anne“, „Das Ereignis“,  „L’évènement“ ist nach dem 8. März nur noch ein Mal im Kino zu sehen, am Dienstag. Hingehen lohnt sich.

von Renate Mumelter 

Abtreibung. Es gibt kein stärker tabuisiertes Thema in unserer Gesellschaft, immer noch. Nicht einmal ins Kino schafft es das Thema, auch wenn es gut erzählt ist. Dabei wurde Audrey Diwans Film „L’évènement“ 2021 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Auch das stieß auf Kritik, was mich angesichts des Themas nicht wundert. So vergleicht ein männlicher Kollege im Profil „Titane“ und „L’évènement“ miteinander und meint, „Titane“ sei „zumindest“ einfallsreich. Wohlgemerkt, „Titane“ war Fantasy. Mich hat „Das Ereignis“ überzeugt, wohl auch, weil ich weiß, wovon die Rede ist.

Annie Ernaux

Beginnen wir von vorne. Annie Ernaux gilt als „eine der prägendsten Stimmen der Französischen Gegenwartsliteratur“. 1940 wurde sie geboren, als Studentin machte sie die Erfahrung einer Abtreibung. Das bedeutete damals Knast, Tod oder Glück, wenn alles gut ging. Erst im Jahr 2000 entschloss Ernaux sich, die Geschichte in einem Roman zu erzählen. „L’évènement“ nannte sie dieses Buch, und genauso heißt der Film. Audrey Diwan setzt die literarische Vorgabe sehr präzise um und schafft ein Werk, das sich wie der Text aufs Essentielle beschränkt, etwas Essentielles, das  existenziell ist.

Abtreibung 1964

„Ich habe ein Problem, das nur Frauen betrifft und sie zu Hausfrauen macht“, sagt Anne einmal in den langen zwölf Wochen, in denen sie nicht weiß, was aus ihrer Zukunft werden wird.

Sie ist ungewollt schwanger geworden und möchte dieses Kind nicht bekommen, weil sie es nicht lieben könnte. Sie hat nämlich andere Probleme, will studieren, Schriftstellerin werden. Der Vater des Kindes will das Kind selbstredend auch nicht, nur dass er sich nicht weiter damit befassen muss.

Anne durchlebt bange Wochen auf der verzweifelten Suche nach Lösungsmöglichkeiten. An ihrer Zwangslage und an der notwendigen Entscheidung hat sie natürlich auch zu beißen. Anne findet niemanden zum Reden. Die Scheinmoral war damals noch viel lebendiger als heute.  

Keine Wahl

Für den italienischen Filmmarkt wurde der Film „La scelta di Anne“ getauft. Keine gute Wahl, denn der italienische Buchtitel „L’evento“ wäre werktreuer gewesen, auch weil Anne keine Wahl hatte. Soviel zu subtilen Interpretationen. Buch und Film begleiten Anne durch ein 12 Wochen währendes zermürbendes Versteckspiel. Die große Einsamkeit der jungen Frau wird von Anamaria Vartolomei überzeugend gespielt.

Heute

Unsere Generation und alle Generationen davor wissen noch von den heimlichen Schwangerschaftsabbrüche bei heimischen Ärzten gegen Bezahlung, im fernen Ausland oder bei Engelmacherinnen mit hohem Risiko. Erst 1978 wurden freiwillige Schwangerschaftsabbrüche durch das Gesetz 194 mit Einschränkungen möglich. Damit das so bleibt und möglichst wenig Frauen ein „Ereignis“ miterleben müssen, muss das Schweigen gebrochen werden. Selbstverständlich ist nämlich gar nichts.  Es wird nur zu gerne propagandistisch zurückgerudert, denn vielen Männern und der Kirche ist wurscht, was wirklich geschieht.

Filmtipp

Pier Paolo Pasolini „Accattone“ (1961) am 16. und 17. März im Filmclub in Bozen

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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