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Du, Forscher, du!

Philipp S. Katz ist nach fünfzig Jahren noch ganz hingerissen von der Begrüßung, die ihm das Bergdorf Stuls bereitet hat.

Der amerikanische Anthropologe Philipp S. Katz erforschte in den 1970er Jahren den sozialen Wandel in Südtirol am Beispiel des Passeirer Bergdorfes Stuls. 50 Jahre stattet er dem Dorf erneut einen Besuch ab.

Von Helmuth Schönauer

Was waren das noch für Zeiten, als Forschern nicht nur geglaubt wurde, was sie erforschten, sondern als man sie auch noch unterstützte und als fröhliche Wissenskumpane begrüßte.

Philipp S. Katz ist nach fünfzig Jahren noch selbst ganz hingerissen von der Begrüßung, die ihm das Bergdorf Stuls bereitet hat anlässlich seiner anthropologischen Studien über Leben, Wandel und Lebenswandel in den 1970er Jahren. Die Formel „Du, Forscher, du! Kimm do auer!“ ist mittlerweile legendär.

Der Autor ist im Rahmen seiner Feldforschung eher zufällig auf diesen Ort im Passeier gestoßen. Nach seinen Grundforschungen in der Karibik, wo er unter anderem die Auswirkung der Höhenlage einer Siedlung auf die Bewohner untersucht hat, brauchte er als Verifizierung seiner Ergebnisse eine Pendant in den Alpen, Höhenlage mindestens 1000 Meter.

(Da wir Älpler uns immer zu den dominierenden Kulturen zählen, finden wir es normal, dass wir andere Völker untersuchen und mit unseren Thesen heimsuchen, wir sind aber erstaunt, wenn sich ein Amerikaner plötzlich mit uns beschäftigt und dabei eine ganze andere Sichtweise verwendet.)

Das Untersuchungsobjekt wurde ursprünglich auf der Landkarte ausgewählt und hätte Sölden im Ötztal sein sollen, weil es 1972 fett in der damals noch nicht digitalisierten Alpenkarte aufblinkt. Als der Forscher dann nach Sölden kommt, sieht er lauter Touristen und keinen einzigen Einheimischen, was seine Untersuchung von vorneherein zunichte macht.

Im zweiten Anlauf geht es dann nach Stuls. Bemerkenswert ist die Ausrüstung mit Bergschuhen und Expeditionspullovern, die deren Notwendigkeit sich der Abenteurer mit Blick auf die Wetterkarten hochgerechnet hat.

Der Forscher legt seine Arbeit „embetted“ an, also eingebunden in das Leben der Bevölkerung. Er macht einen ganzen Jahreskreis der Vegetation mit, der Jahresablauf ist ritualisiert, die Natur bestimmt den Rhythmus und entscheidet über ökonomischen Gewinn oder Verlust eines ganzen Jahres.

Die Studien-Arbeit wird gespeist aus Interviews, Alltagsgesprächen, wortlosem Mitwirken bei der ungewohnten Bergbauernarbeit, Gasthausfeten und Kartenspiel, sowie dem Aufarbeiten der Ortsquellen als Kataster oder im kirchlichen Bereich. Das Material wird transformiert in „Facherzählungen“, Tabellen, Bildmaterial sowie den sogenannten „Field-Notes“, wie die spontan angelegten Karteikärtchen genannt werden.

Allein die Aufzählung der Tabellen ergibt einen imposanten Eindruck in das Leben vor einem halben Jahrhundert. Hochzeitslisten, Nahrungsmittel, Schülerzahl, Höfe, Feiertage, was wie zufällige Parameter ausschaut, unterliegt dem wissenschaftlichen Stand der damaligen Zeit. Die Daten wurden in Ermangelung heutiger Rechenprogramme mit einem Lochkartensystem ausgewertet, ein Stricknadel bohrte sich den Weg durch gelöcherte Karteireiter, und schon ließen sich einmalige Zusammenhänge erkennen.

Das Material von damals wirkt in der Zusammenstellung von heute, als wäre alles vor Jahrhunderten geschehen, und die Höfe hätte man soeben ausgegraben, nicht bloß fotografiert.

Der Autor ist nach 50 Jahren wieder ins Dorf gereist und hat eine völlig andere Bevölkerung vorgefunden. Der Weltgeist ist selbstverständlich eingezogen, und nur, wenn man die Bilder und Gespräche von früher einblendet, lässt sich das Einmalige eines Ortes festmachen.

Fazit: Die Geschichte macht aus der gleichförmigen Gegenwart unverwechselbare Erlebnisse.

Das impliziert auch die Krise des aktuellen Tourismus. Bei seiner ersten Erkundung empfinden Gäste das Dorf als Museum aus einer anderen Zeit, während es für die Einheimischen purer Alltag ist. Mittlerweile gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem Leben der Gäste und jenem der Einheimischen, was zu der paradoxen Situation führt, dass überall alles gleich ist.

Außer, man besitzt einzigartige Unterlagen, wie eben das Buch von Philipp S. Katz. Er erklärt in seinem Bildband aus zwei Zeitschichten, wie die Gegenwart eines Ortes aus der Geschichte entstanden ist.

Für die Einheimischen bedeutet das, den Strahl aus der Vergangenheit halbwegs ungekrümmt in die Zukunft hineinzuführen. Für Durchreisende und Schaulustige heißt es, dass man nichts erkennt, was man sich nicht erarbeitet hat. Eine Beschäftigung mit seinem jeweiligen Urlaubsort wird also in Zukunft die Voraussetzung für einen gelungenen Urlaub sein.

Der ideale Tourist der Zukunft müsste wieder eingeladen werden mit klaren Worten: „Du, Tourist, du, kimm do auer!“ Und ein echter Südtiroler wird hinzufügen: „Und lass dein Geld da!“

Philipp S. Katz: Du, Forscher, du! Ein Amerikaner im Bergdorf Stuls. Über den sozialen Wandel der 1970er Jahre. Bilder. Bozen: Edition Raetia 2021. 199 Seiten. EUR 27,50.

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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