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„Meine Gedichte sind aus ‚Mehrsprache‘ “

Dagmara Kraus: Jede Sprache ist im Wesentlichen pluralisch und Reinheit ein (gefährliches) Konstrukt. (Foto: Ben Koechelin/Basler Lyrikpreis)

Mehrsprachigkeit ist die Essenz ihrer Dichtung: Dagmara Kraus, in Polen geboren, in Deutschland aufgewachsen, ist die Siegerin der 19. Ausgabe des Lyrikpreises Meran. Ein Gespräch.

Tageszeitung: Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des 19. Lyrikpreises Meran. 

Dagmara Kraus:  Danke!

Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung? Kommt es Ihnen wie ein „Dagmärchen“ vor?

Ja, so kann man es wohl ausdrücken.

Sie sind in Polen geboren, in Deutschland aufgewachsen und leben in Frankreich. Gehört Mehrsprachigkeit zu den Materialien Ihrer Dichtung? Sie sprengen jede sprachliche Einheit und Reinheit. Wie politisch ist das gemeint? 

Mehrsprachigkeit gehört nicht nur zu den „Materialien“ meiner Dichtung, sie ist, würde ich sagen, ihre eigentliche Essenz. Tatsächlich handelt es sich gar nicht um eine Art „-keit“; meine Gedichte sind nicht aus einer Eigenschaft gemacht, selbst wenn sie, wie so oft, nicht als „Deutsch“ identifiziert werden. Sie sind vielmehr aus ‚Mehrsprache‘ gemacht, einem Idiom, das man auch als „Europäisch“ bezeichnen könnte. Und ja, das lässt sich durchaus politisch begreifen. Allerdings mit einem Perspektivenwechsel: nicht „Sprengung“, nicht Zerschlagung suche ich in meinen Gedichten, sondern Verschmelzung, und zwar von scheinbar Disparatem. Jede Sprache ist im Wesentlichen pluralisch und Reinheit ein (gefährliches) Konstrukt. Lassen Sie es mich so fassen: Solange wie Multilinguismus und Multikulturalismus nicht für alle Menschen selbstverständlich sind, werden Gedichte wie die meinen einen politischen Impetus haben.

Die babylonische Verwirrung, die Bibel, Pathos, Blasphemie, Katastrophen und Kalauer kommen in Ihren Gedichten vor. Sie spielen mit Hans Arp, Raymond Queneau, Carlo Gesualdo und Rainer Maria Rilke. Das ist ein weites Feld. Ist prinzipiell alles aus allen Zeiten brauchbar und nützlich zur Erzeugung Ihres Klangraums? 

Ja. Vorausgesetzt, es gefällt mir.

Stichwort Blasphemie: Gibt es das überhaupt jenseits des Gesetzbuches und wozu setzen Sie dieses Mittel ein? 

Ich setze Blasphemie nicht als Mittel ein, sondern habe in betreffendem Gedicht – es heißt „das pulmal in vatis klematis“ und ist in seiner aktuellen Version in meinem Band „liedvoll, deutschyzno“ abgedruckt – lediglich einen Sachverhalt durchgespielt, der mir im Kopf herumging und versucht, diesen in Anlehnung an pilpulistische Denkmanöver lyrisch zu gestalten. Allerdings sind Thema und Behandlungsweise vielleicht nicht anders als vor meinem biographischen Hintergrund zu lesen. Wie Sie wissen, grassiert eine äußerst üble, schnell übertragbare Variante des Katholizismus in meiner vor langer Zeit verlassenen Heimat Polen…

  Die Jury hat Ihre Lyrik als avantgardistisch bezeichnet. Die Experimente mit Sprachzertrümmerung und Verweigerung einer gemeinen Sinnübereinkunft sind bereits historisch. Bedeutet der Begriff Avantgarde für Sie als Lyrikerin noch etwas? 

Ich habe den Ausspruch der Jury als Kompliment aufgenommen, aber empfinde mein Schreiben selbst eher als dasjenige einer Nachzüglerin, einer Marodeurin, die, um im Bild zu bleiben, nicht auf Gefecht aus ist, sondern lieber hier plündert und dort zündelt, allerdings stets nurmehr Reste antrifft, da man lange vor ihrem Eintreffen bereits abgeräumt hatte, was abzuräumen war. Solcherart literaturhistorische Wegweiser sind für mich eher “Wegweiser“ – zu sprechen wie „weck“–, die das Fortgehen und Weiterziehen anregen – auch dieser Dadagmarodeurin, die ich bin.

Werfen wir einen Blick in Ihre Schreibwerkstatt. Wie schaut es da aus, wie geht es da zu?  

Jedes Gedicht schreibt sich anders. Dementsprechend sieht es in der Werkstatt niemals gleich aus. Es gibt die Gedichte nach Eingebungen und Einfällen, von A bis Z heruntergeschrieben; es gibt die Konstrukte, die von grammatikalischen Überlegungen herrühren und Tüfteleien sind; es gibt die klanglichen Gedichtgebilde, die sich aus rhythmischen Verkettungen entwickeln, solche, die „contraintes“ folgen, alten Formen, Wortfunden, -erfindungen, Übersetzungen, Konzepten, Geschichten und Anekdoten usw.

Welche Zeit, welchen Ort, welche Konzentration brauchen Sie zum Gedichteschreiben? 

Ich brauche keine besondere Zeit, keinen besonderen Ort, aber, wie für alle Tätigkeiten, relative Konzentration.

Wann ist ein Gedicht für Sie gelungen oder zumindest abgeschlossen? 

Abgeschlossen ist es dann, wenn es mich nicht mehr drängt, etwas an ihm zu verändern.

Was kann das Gedicht? 

Dies ist eine zu große Frage für das vorliegende Format, Verzeihung! Falls Sie mich beauftragen sollten, schriebe ich Ihnen sicherlich einen Aufsatz zum Thema.

Zuletzt gab es heftigen Streit um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht „The Hill we climb“, weil Weiße nicht in der Lage seien, die Gefühle einer jungen Afroamerikanerin zu verstehen. Wie sehen Sie diese Debatte? 

Die Debatte habe ich nicht bis in ihre Einzelheiten verfolgt, aber verstehe nach wie vor nicht, was Gedichte mit Hautfarben zu tun haben. Falls die Übersetzung problematisch sein sollte, lese man Gorman im Original! Es ist doch sehr schade, dass man nicht über das Gedicht spricht, sondern über die Hautfarbe der Dichterin…

Interview: Heinrich Schwazer

 

Die SiegerInnen

Dagmara Kraus, Dara Maria Cojocaru und Marcus Neuert wurden bei der 19. Ausgabe des Lyrikpreises Meran ausgezeichnet.

Mara-Daria Cojocaru, Claudia Gabler, Odile Kennel, Dagmara Kraus, Markus Köhle, Frank Milautzcki, Marcus Neuert, Felix Schiller und Martina Weber haben es ins Finale der 19. Ausgabe des Lyrikpreises Meran geschafft. Ihre Arbeiten standen im Mittelpunkt der diesjährigen Online-Gespräche, die eine Jury mit dem Moderator Ernest Wichner (Berlin) führte. Es diskutierten der Lektor des Wallstein Verlags Thorsten Ahrend, der Schweizer Dichter Urs Allemann, die Essayistin und Autorin Ulrike Draesner, die Literaturwissenschaftlerin aus Wien Konstanze Fliedl und der Literaturjournalist Paul Jandl.

Mit dem 1. Preis (8.000,00 €, Südtiroler Landesregierung) wurde Dagmara Kraus geehrt. In ihrer Begründung schreibt die Jury: „Dagmara Kraus lässt den Wörtern freien Lauf, in dem sie mit lyrischen Formen spielt und für dieses Spiel immer neue Gefährten sucht. Hans Arp, Raymond Queneau, Carlo Gesualdo und Rainer Maria Rilke.“

Der 2. Preis (3.500 €, Stiftung Südtiroler Sparkasse) geht an die 1980 in Hamburg geborene Dara Maria Cojocaru, die als Schriftstellerin und Dozentin für praktische Philosophie in München und London lebt. „Mara-Daria Cojocarus Gedichtzyklus Hominide B-Seiten untersucht die Untersuchungen des Menschen am Tier. Er achtet darauf, was übersehen wurde und erweitert unseren textlichen Blick, indem er die alte Tradition der Bild- und Schriftkombination, wie das Emblem sie pflegte, in zeitgenössischen Gebrauch nimmt“ begründet die Jury ihre Entscheidung.

Mit dem 3. Preis  (2.500 €, Südtiroler Landesregierung) wurde der 1963 in Frankfurt a.M. geborene Marcus Neuert ausgezeichnet, der  als Schriftsteller und Musiker in Minden/Westfalen lebt.

Die Veranstaltung ist noch bis Ende Mai 2021 online abrufbar: www.lyrikpreis-meran.org.

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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