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Radio KARANTINA

Die libanesische Künstlerin Jessika Khazrik: Die frohgemute Formel „Mit Musik geht alles besser, sogar die Quarantäne“ wird von kryptischen Sound-Bedeutungsräumen durchkreuzt, die vor sich hindunkeln und ihr politisches Inneres nur verschlüsselt preisgeben. (Foto: Robert Sieg)

Die libanesische Künstlerin Jessika Khazrik aktiviert live von Berlin aus das im Schaufenster der ar/ge kunst installierte 8-Kanal-Soundsystem.

(sh) „Dies ist eine schwindelerregende und liebevolle Mischung, die im Liegen entstanden ist. Ich befinde mich im Anfangsstadium der Genesung von einer plötzlichen schweren inneren Infektion. Um Schmerzen und die täglichen aufrechten Körperhaltungen zu vermeiden, die ich nicht halten kann, bin ich gezwungen, meine Tage in der Horizontalen zu verbringen. Wie es normalerweise bei neu erlebten Krankheiten der Fall ist (von denen ich aufrichtig hoffe, dass sie nie wieder auftreten), sobald ein Symptom verschwindet, taucht es mit drei neuen wieder auf, so dass der Körper nicht mithalten kann. Dies wurde eigenwillig durch den Mix kanalisiert. Diesmal gibt es keine Tanzmusik, nur Sprechchöre, Anti-Establishment-Parolen und einige neue Mischtechniken mit maschinellem Lernen, die zum ersten Mal live aufgenommen wurden. Alles Gute zum 100jährigen Bestehen von Radio KARANTINA! All dies ist vor allem unserer, hoffentlich immerwährenden, Solidarität mit den Kranken und den Möglichen gewidmet.“

So weit das Statement von Jessika Khazrik, vom 23. Juni 2020 auf Radio KARANTINA.  Das von Beirut aus betriebene Webradio mit dem sprechenden Namen sendet während der Quarantäne Musik, Geschichten und Bilder in die Welt hinaus und feiert nicht nur in der arabischen Welt Erfolge. Von den zahllosen Webradiosendern, die  nach einem ausgefeilten Algorithmus einfach Medleys aneinanderreihen, unterscheidet sich Radio KARANTINA jedoch fundamental. Die frohgemute Formel „Mit Musik geht alles besser, sogar die Quarantäne“ wird von kryptischen Sound-Bedeutungsräumen durchkreuzt, die vor sich hindunkeln und ihr politisches Inneres nur verschlüsselt preisgeben.

Wahrscheinlich bräuchte es eine Kernspintomographie des Denkens, um ins Innere des Denkens der 1991 in Beirut geborenen Künstlerin vorzudringen. Khazrik befasst sich als Künstlerin, Produzentin elektronischer Musik und Forscherin, mit Ökotoxikologie, maschinellem Lernen, Kryptographie und Performance bis zu bildender Kunst sowie Wissenschafts- und Musikgeschichte. Sie studierte Linguistik und Theaterwissenschaften an der Lebanese University und erwarb einen Master of Science in Kunst, Kultur und Technologie des MIT, wo sie mit dem Ada Lovelace Prize ausgezeichnet wurde.

Ihre Verschmelzung unterschiedlichster Ebenen zwischen Recherche, Kapitalismuskritik, politischer Agitation, Technologie und Dystopie ist ein ästhetisch schillernder Mix.

Die Fensterfront der Galerie Museum dient als Durchblick und Display für Skulpturen und steganographisch verschlüsselte Botschaften.  Das Verfahren hat Ähnlichkeit mit der Kryptografie, mit einem Unterschied: Bei der Kryptografie weiß ein Dritter von der Existenz der Information, kann diese jedoch nicht entschlüsseln. Die Steganografie hingegen zielt drauf ab, eine geheime Botschaft in einem harmlosen Objekt zu verstecken, sodass nicht einmal auffällt, dass sich darin etwas Geheimes verbirgt. In der Antike wurde beispielsweise Sklaven der  Kopf geschoren und eine Nachricht auf die Kopfhaut tätowiert. Sobald die Haare wieder nachgewachsen waren, wurde er zum Empfänger geschickt. In der digitalen Ära nutzen vor allem Cyberkriminelle die Technik der Steganographie.

Jessika Khazrik verschlüsselt ihre Botschaften in Schichten von steganografischen Bildern, die ihren Ausgangspunkt in einer Recherche über illegalen Giftmüll, der aus Italien kommend in einem Steinbruch unweit des Elternhauses abgelagert wurde. Die Ausstellung  Abeyance & Concurrence (Schwebe & Gleichzeitigkeit) in der ar/ge Kunst  bildet die Fortsetzung ihrer Untersuchungen und spürt den komplexen Verknüpfungen nach, die zwischen Umweltzerstörung als einer Form von Waffe und dem Bankwesen bestehen. Gleichzeitig reagiert die Arbeit auf die jüngsten Ereignisse, die sich auf das Zuhause und das Leben der Künstlerin auswirkten – die Revolutionen vom Oktober 2019, ihre Enteignung und unrechtmäßige Verhaftung während der andauernden libanesischen Bankenkrise, die Explosion vom August 2020 in Beirut und die von COVID-19 bewirkte Syndemie. Letzterer Begriff geht auf den Anthropologen Merrill Singer zurück, der die Häufung von zwei oder mehr Epidemien beschrieben hat. Syndemien entwickeln sich verursacht durch Armut, Stress und strukturelle Gewalt.

Ihre von Berlin aus ferngesteuerte Sound-Performance „In Fires & Fumigations“ war nur von der Museumsstraße aus erlebbar. Das Remote-Set basiert auf einem KI-unterstützten Hybrid-Mix, sowie einem selbst konstruierten Audiosystem mit Schallwandlern. Der Sound mixt sich durch arabisch angehauchte Klänge, sakral wirkenden Gesänge, Sprechchören und Anti-Establishment-Parole hindurch. Was davon DJing und was KI erzeugt war, ließ sich nicht unterscheiden. Die „spukhafte Fernwirkung“ jedoch funktionierte.

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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