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Als wir uns die Welt versprachen

Romina Casagrande: Im Schuppen wird das Mädchen vergewaltigt, während man den Jungen mit Arbeit fertig macht.
(Foto: Roberto Colonello)

Die Meraner Autorin Romina Casagrande erzählt die ergreifende Geschichte von zwei Kindern aus dem Vinschgau, die wie Tausende arme Bergbauernkinder vor ihnenals „Schwabenkinder“  unter härtesten Bedingungen bei schwäbischen Landbesitzern schuften mussten.

 Von Helmuth Schönauer

Die Schatztruhe des Lebens ist nicht von ungefähr am späteren Lebensabend ziemlich aufgefüllt. Neben den Ereignissen, die so ein volles Leben ausmachen, sind es vor allem die ständig wechselnden Emotionen darüber, die das Erlebte plastisch werden lassen. Das ist auch das Problem von sogenannten Zeitzeugen, man weiß bei ihnen nie, wie die früheren Ereignisse in der Gegenwart gedeutet werden sollen.
Romina Casagrande, 1977 in Meran geboren, erzählt von einem gut ausgeleuchteten Leben einer späten Heldin, die ihre Jugend als illegales „Schwabenkind“ verbringen musste. Unter dem beschwörenden Titel „Als wir uns die Welt versprachen“ kommt die Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zum Vorschein, als die Kinder Edna und Jacob vom Vinschgau aus nach Ravensburg geschickt werden, um dort auf einem Bauernhof zu arbeiten. Der klassische Transfer von Schwabenkindern wurden zwar mit dem Schließen des Kindermarktes in Ravensburg 1915 beendet, die vertuschte Kinderarbeit gab es wohl bis in die 1970er Jahre herauf. Wenn man das sexuelle Treiben in manchen Internaten als Kinderarbeit bezeichnen will, ist es kein Wunder, dass alles was, mit Schwabenkindern, illegaler Saisonarbeit und Verschickung zu tun hat, kaum in einer öffentlichen Diskussion vorkommt.
Im Roman wird dieses stillgelegte Thema seltsam fröhlich und abgerundet aufgegriffen. Die ältere Dame Edna Weiss packt ihren Papagei Emil in eine Transportkiste und macht sich vom Vinschgau aus auf den Weg nach Ravensburg. Auf einem Foto in einer Illustrierten hat sie einen gewissen Jacob entdeckt, der als Umweltschützer bei einem Unglück zu Schaden gekommen ist. Das muss ihr Jacob sein, mit dem sie den gemeinsamen Papagei hat. Sie findet auch noch das Foto von 1939, die Ähnlichkeit der Jacobsgesichter ist da. Jetzt gilt es, ihn ausfindig zu machen und die Erinnerung an den fernen Überlebenskampf abzugleichen.
Der Überlebenskampf ist ein doppelter. Auf einer Schiene wird die Geschichte von Edna und Jacob erzählt, wie sie von einem falschmünzigen Pater über die Berge nach Ravensburg getrieben werden, unter entsetzlichen Bedingungen arbeiten müssen, und sich ewige Treue versprechen, um dem Desaster zu entfliehen. Ein versteckter Papagei hilft ihnen beim Durchhalten, indem sie ihm das Sprechen beibringen, damit immer positive Parolen in der Luft sind, wenn es zu arg wird. Im Schuppen wird das Mädchen vergewaltigt, während man den Jungen mit Arbeit fertig macht. In den Kriegswirren verlieren sich die drei, Edna und der Papagei kehren nach Südtirol zurück, während sich die Spur des Buben verliert.
Im zweiten Überlebenskampf macht sich die alt gewordene Edna zu Fuß auf den Weg zu ihrem verschollenen Jacob. Sie will ihm den Papagei zurückbringen, um das Leben abzurunden. Auf dieser märchenhaften Reise kommen alle Zeitgeister und Strömungen der letzten Jahre zum Vorschein. Die Umarmung von Bäumen, der Kult von Rockern, das illegale Kräuterrauchen, das Posten von Reiseabenteuern: alles strömt auf die Heldin  in der Klarheit einer  Alters-Trance ein.
Die zurückgelassenen Freunde reisen ihr nach, weil sie sich nicht sicher sind, ob nicht etwas Alzheimer dabei ist bei dieser merkwürdigen Dame. Das Märchen endet tragisch versöhnlich, wie es die Aufgabe von Märchen ist. Edna erfährt am Zielort im Krankenhaus, dass ihr Jacob gestorben ist. Seine Angehörigen erzählen in kurzen Sätzen, dass er eine Art fröhlicher Außenseiter geblieben ist, der immer wieder von seinem Papagei geredet hat.
Edna muss sich mit der Vergangenheit versöhnen. Ein Besuch auf dem Schinder-Hof zeigt den Fortschritt der Zeit, aus dem Bauernhof ist ein Fünfsterne-Hotel geworden. Der grausame Schuppen freilich steht noch, und nur Edna weiß, was darin geschehen ist.
Die Geschichte von der rüstigen Signora, die auf der Suche nach dem Frieden mit der Zeitgeschichte quer über die Alpen unterwegs ist, geht viral um die halbe Welt. Sie und ihr Papagei sind in einem Netzauftritt wohl ideale Werbeträger für einen jugendlichen Tourismus, worin die Geschichte des Landes gezeigt werden kann.
In einem kompakten Nachwort erzählt Romina Casagrande, die selbst drei Papageien besitzt, wieso ein Papagei ein idealer Romanheld ist. Ihr Roman versucht mit den Erzählmitteln der Gegenwart dem Habitus einer verflossenen Zeit gerecht zu werden. Die leicht blumige Erzählweise bietet auch eine passable Möglichkeit, mit der etwas vertrackten Denkwiese älterer Jahrgänge in Kontakt zu kommen.
Das ganze Unterfangen hat etwas von einem Drehbuch für eine Happy-Serie an sich, worin die Menschen alt und glücklich, die Berge sonnig und steil, und die Geschichte grausam, aber überlebbar dargestellt sind. Da mittlerweile in der Literatur fast alle Leser Touristen sind, gleicht die Reiseroute in die Erinnerung phasenweise einem Reiseprospekt durch die ewig schönen Destinationen Südtirol, Vorarlberg und Schwaben.

Romina Casagrande: Als wir uns die Welt versprachen. Roman. A. d. Ital. von Katharina Schmidt. [Orig.: I bambini di Svevia, Mailand 2020.] Frankfurt/M: Fischer Krüger 2021. 480 Seiten. EUR 22,70.

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