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„Träge und unmotiviert“

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Das Netzwerk für Sportpsychologie schlägt Alarm: Bewegungsmangel im Kinder- und Jugendalter kann fatale Folgen haben, sagt die ehemalige Leistungssportlerin Monika Niederstätter.

Tageszeitung: Frau Niederstätter, Kinder und Jugendliche bewegen sich in der Corona-Pandemie weniger und verbringen gleichzeitig mehr Zeit vor Bildschirmen. Was bedeuten diese Einschränkungen für Kinder und Jugendliche?

Monika Niederstätter (Präsidentin des Netzwerks für Sportpsychologie): Die Kinder leiden unter den Einschränkungen und besonderen Lebensbedingungen und ich finde es schade, dass sie sich nicht selbst wehren oder zu Wort melden können. Andererseits ist es aber auch so, dass Kinder viel flexibler sind als Erwachsene und sich deswegen einer neuen Situation schneller anpassen können. Bei der Bewegung ist es aber so, dass es sich um ein Grundbedürfnis handelt, welches einfach ganz wichtig für ihre ganzheitliche Entwicklung ist. Aber dieses Grundbedürfnis verlernen sie momentan leider.

Wie meinen Sie das?

Sie vergessen es, weil sie sich nicht mehr bewegen, sie spüren dieses Verlangen nicht mehr und wollen sich dann auch gar nicht mehr bewegen. Deswegen sagen viele Kinder auch nicht, dass es ihnen schlecht geht, weil sie diesen Bewegungsmangel nicht unmittelbar wahrnehmen. Wir werden es aber dann in ihrer Entwicklung merken, dass sie einfach Defizite aufweisen, die sich dann wiederum auf verschiedene Bereiche auswirken werden.

Wie wichtig sind Sport und Bewegung für die Entwicklung der Kinder?

Man muss einfach bedenken, dass sich Kinder vor allem über und durch Bewegung und Bewegungserfahrung entwickeln – auch kognitiv. Kinder müssen selbst ausprobieren, ob sie es schaffen auf einen Baum zu klettern, weil durch diese Handlung ihr Raumerleben in Schwung kommt, sie Höhe und Tiefe erleben und erst verstehen, was sie mit Armen und Beinen tun müssen. Kinder können sich das nicht vorstellen, aber übers Tun kommt das Lernen. Auf der anderen Seite wissen wir natürlich, dass mehr Sauerstoff transportiert wird, wenn wir uns mehr bewegen und dass das Gehirn besser durchblutet wird. All das fällt momentan einfach weg.

Monika Niederstätter

Dazu kommt noch der soziale Aspekt von Sport.

Viele Kinder sagen derzeit, dass ihnen die Freunde, das gemeinsame Training und der Spaß fehlen. Viele Kinder verlernen aber auch Sachen, die sie zuvor vielleicht gekonnt haben. Und wenn sich diese Trägheit dann vielleicht in eine ganze Familie einschleicht, ist das Risiko groß, dass man dann auch nach Corona keine Lust hat sich zu bewegen.

Befürchten Sie, dass viele Kinder den Sportvereinen nach Corona den Rücken kehren werden?

Wir wissen von Berichten aus Deutschland, dass wir in Zukunft viele Ausstiege haben werden, also dass ganz viele Kinder nicht mehr zum Vereinssport kommen werden. Sie schaffen es nicht mehr sich zu motivieren, sehen keinen Sinn darin und sind es vielleicht auch nicht mehr gewohnt in einer Gruppe zu sein.

Das Netzwerk warnt auch vor fatalen körperlichen und psychischen Folgen von Bewegungsmangel. Welche Folgen meinen Sie?

Die Gruppe derjenigen Kinder, die sich in dieser Zeit fast gar nicht mehr bewegt haben, hat sich vervielfacht. Dies wirkt sich negativ auf ihr Befinden aus, sie ziehen sich immer mehr zurück, sind traurig und nachdenklich. Mit der Verschlechterung des Befindens geht wiederum eine Abnahme der Bewegung einher und die Kinder und Jugendlichen werden träge und unmotiviert. Bewegungsmangel kann aber auch auf körperlicher Ebene zu Schäden führen, weil durch die Bewegung Knochen und Gelenke, das Herz- Kreislaufsystem usw. gestärkt werden.

Zuletzt gab es immer wieder Kritik, dass Profis und Leistungssportler trotz Lockdown trainieren und spielen dürfen, während Kinder das nicht tun können. Wie sehen Sie als ehemalige Leistungssportlerin diese Diskussion?

Das ist ein sehr schwieriges Thema, weil ich einerseits den Unmut verstehen kann, dass z.B. Fußballkinder seit fast einem Jahr nichts machen können, andererseits weiß ich als ehemalige Leistungssportlerin auch, was diese Situation für die Athleten bedeutet. Und es tut mir wirklich sehr leid, dass bei den jungen Leistungssportlern die Motivation abnimmt, weil diese Unbeschwertheit momentan einfach fehlt. Ich arbeite viel mit Jugendlichen und viele sagen, dass es heuer mit Abstand, Distanz, Maske usw. einfach nicht so viel Spaß macht und ich beobachte auch, dass Jugendliche deswegen mit dem Leistungssport aufhören. Es wird auch bereits befürchtet, dass im Leistungssport ein oder zwei Jahrgänge fehlen oder schwach ausfallen werden. Im Leistungssport werden nämlich in einem gewissen Alter gewisse Fertigkeiten trainiert, damit man für später eine Zukunft hat – das kann heuer aber nicht gemacht werden, weil die Trainings häufig ausfallen.

Kommen wir noch einmal auf die Kinder und Jugendlichen zu sprechen: Aktuell fehlen nämlich nicht nur die Sportangebote in der Freizeit, sondern vielfach auch im schulischen Bereich…

In den letzten Jahren hat man in Südtirol wirklich versucht mehr Sport in die Schule zu bringen, weil der Schulsport alle Kinder und Jugendlichen erreicht. Das hat sich heuer komplett verändert und das ist einfach tragisch. Ein Kindergartenkind sollte sich eigentlich drei Stunden pro Tag bewegen, in der Grund- und Mittelschule spricht man von 90 Minuten und bei Jugendlichen und Erwachsenen von rund einer Stunde Bewegung pro Tag – davon sind wir momentan Welten entfernt.

Was kann man gegen diese Situation tun?

Aus Sicht des Netzwerks für Sportpsychologie besteht dringender Handlungsbedarf, um Kindern und Jugendlichen wieder mehr Spiel und Sport mit Gleichaltrigen zu ermöglichen – speziell im Frühling und Sommer sollte ein Training zumindest im Freien wieder gezielt gefördert werden, auch wenn dies mit einigen Schutzmaßnahmen verbunden ist.

Interview: Lisi Lang

 

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