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„Deutlich mehr Anfragen“

Derzeit wird in den Psychiatrien und den psychologischen Diensten ein Anstieg an Patienten beobachtet. Primar Roger Pycha erklärt, woran das liegt und warum auch bei jungen Patienten ein deutlicher Zuwachs zu erkennen ist.

Tageszeitung: Herr Pycha, verschiedene italienische Medien berichten, dass es deutlich mehr Jugendliche in psychiatrischer Behandlung gibt. Gilt das auch für Südtirol?

Roger Pycha: Das ist schwer zu beantworten. In der Bozner Ambulanz für Kinderpsychiatrie gab es tatsächlich einen deutlichen Patientenzuwachs um 30 Prozent. In Bruneck gibt es eine Patientenzunahme um zehn bis 20 Prozent. Dabei handelt es sich vor allem um Jugendliche, die depressive Symptomatiken zeigen, gerne zur Schule gehen würden, aber nicht können und orientierungslos sind. In der Kinderpsychiatrie gibt es ebenso rund 20 Prozent mehr Patienten, dort häufen sich allerdings die Essstörungen.  In Brixen gibt es dagegen keine Zuwächse, dort haben sich aber die Patienten, die in Behandlung sind, verändert. Das heißt, es zeichnen sich im gesamten Land unterschiedliche Bilder ab.

Inwiefern?

Kinder und Jugendliche mit Schulphobie sind beispielsweise ohne Beschwerden, weil sie zum Teil nicht zur Schule gehen müssen, dasselbe gilt für Kinder mit Sozialphobie oder Autisten. Schwerer tun sich dagegen ADHS-Patienten, bei denen die Tendenz zur Internetsucht zunimmt. Ob es sich um eine effektive Sucht handelt, kann man aber nicht sagen.

Ein eindeutiger Anstieg jugendlicher Patienten in den Psychiatrien gibt es also nicht?

Es ist von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedlich. In den psychologischen Diensten ist es ähnlich. Josef Pichler, Leiter des Dienstes in Meran hat bestätigt, dass die Anfragen nach dem ersten Lockdown um 30 Prozent zugenommen haben. Die Patientenanzahl ist dagegen nur um zehn Prozent gestiegen. Zwar ist dieser Zuwachs jetzt etwas abgeflaut, aber wir können teilweise bereits jetzt beobachten, dass die Anfragen nun wieder zunehmen. Deutlich eindeutiger ist die Zunahme bei den Erwachsenen.

Warum steigen die Anfragen und die Patientenanzahl in den Kinder- und Jugendpsychiatrien wieder?

Das hängt mit dem aktuellen teilweisen Lockdown zusammen. Wir haben bereits im ersten Lockdown gesehen, dass die psychosoziale Krise der wirtschaftlichen und medizinischen Krise hinterherhinkt. Das heißt, die Auswirkungen der Krise für die Psyche zeigen sich erst einige Zeit nach dem Lockdown. Sicher ist aber, dass die Situation eine Belastung für die Psyche ist. Ob und inwiefern das Virus dafür verantwortlich ist, haben wir versucht, in einer kleinen Studie zu ermitteln. Dabei haben wir gesehen, dass sich die Anzahl der Depressionsfälle bei positiv getesteten Personen verdreifacht hat. Ob das jetzt Folgeerscheinungen sind oder die Krankheit selbst dafür verantwortlich ist, wissen wir nicht.

Wie hoch ist die Patientenzunahme bei den Erwachsenen?

Im Bereich der Erwachsenen-Psychiatrie gibt es eine Zunahme an Patienten um 20 bis 30 Prozent. Die Krise macht psychisch leicht gestörte Personen auf jeden Fall auch psychisch krank. Allerdings ist dieser Zuwachs davon abhängig, ob und wie gut die psychisch leicht gestörten Personen behandelt werden. In einer großen Stadt ist es beispielsweise schwer, diese Leute zu erreichen.

Kommen Kinder und Jugendliche also besser durch die Krise als Erwachsene?

Kinder leiden derzeit stark unter Bewegungs- und Kontaktmangel. Kinder und Jugendliche haben aber eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen psychische Krankheiten. Kinder können in fast jeder Situation lernen zu spielen und sich zu unterhalten. Die Zahlen deuten darauf hin, dass Psyche wird diese Krise nicht nur schultern können, sondern auch gut verdauen.

Wird sich die Situation dieser Personen durch die anstehenden Festtage verschlimmern?

Weihnachten ist ein kritisches Fest in vielerlei Hinsicht. Es ist ein Fest, das glücklich sein sollte, wird aber ein Fest der Orientierungslosigkeit. Es wird verwirrlich und chaotisch ablaufen. Wir gehen daher sehr wohl von einem weiteren Patientenzuwachs nach Weihnachten auf, eher wird aber der Bedarf nach Beratung intensiv zunehmen. Im Moment ist dieser Bedarf noch nicht da, aber er wird kommen. Wir haben aber bereits Maßnahmen eingeleitet, um diesen Ansturm zu bewältigen.

Und zwar?

Wir haben zum einen die niederschwelligen Telefonberatungsdienste darum gebeten, in dieser Zeit besonders präsent zu sein, wir haben aber vor allem mit dem Psychologischen Dienst 24 h einen spezialisierten Dienst eingerichtet. Bisher hat sich diese Strategie bewährt, bisher wurden wir nicht überrannt.

Werden diese Dienste in Anspruch genommen?

Besonders die niederschwelligen psychologischen Dienste werden gut genutzt. Dort werden die Menschen nur beraten, aber nicht behandelt. Die telefonischen Anfragen sind bereits nach dem ersten Lockdown um 30 Prozent gestiegen. Spezialisierte Dienste wie der psychologische Dienst 24 h ist dagegen nicht voll ausgelastet. Das heißt, die Bevölkerung ist entweder gut versorgt, wir erreichen die Bevölkerung nicht oder der Ansturm kommt erst. Wir bereiten uns derzeit auf das letztere vor.

Wie bereitet man sich auf den vermeintlichen Ansturm vor?

Wir haben drei Schritte vorbereitet. Der erste Schritt ist, dass alle öffentlichen Dienste zusammenarbeiten. Das heißt, wenn der psychologische Dienst überlaufen ist, helfen andere öffentliche Strukturen, in denen Therapeuten tätig sind, aus. Sollte das nicht reichen kommt Schritt zwei zum Tragen, der vorsieht, dass die konventionierten Dienste durch die öffentliche Hand ausgeweitert werden. Wenn auch diese überlastet sind, werden Konventionen mit privaten Einrichtungen abgeschlossen. Derzeit sind wir in der Verwirklichung dieses Planes.

Italienische Medien berichten auch über einen Anstieg an Selbstmordversuchen…

Dazu kann man in Südtirol leider nicht viel sagen, denn es werden immer nur Jahresbilanzen gezogen. Wir können erst Ende des Jahres beurteilen, ob es einen Zuwachs über einen längeren Zeitraum gab oder nicht. Was aber aufscheint sind Suizid-Anstieg innerhalb eines kurzen Zeitraumes. Den gab es auch tatsächlich im Juni. Das war die größte Suizidhäufung, die es jemals in Südtirol gab mit sechs Suiziden an sieben Tagen. Wir haben darauf sofort reagiert, unser Netzwerk Psy-Help aktiviert und eine Krisengeschichte mit einem Betroffenen veröffentlicht. Offenbar hat das dabei geholfen, denn anschließend gab es keine Berichte über Häufungen.

Interview: Markus Rufin

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