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„Lage hat sich verschärft“

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Die Verantwortliche für die Streetworkerprojekte Diana Seyffarth befürchtet angesichts der Corona-Krise eine neue Art der Obdachlosigkeit.

Diana Seyffarth ist die Verantwortliche für die Streetworkerprojekte im Verein Volontarius in Bozen. Sie und ihre Kollegen helfen Menschen, die sozial ausgegrenzt sind – wie Obdachlose, Wohnungslose. Seit zehn Jahren ist die 32-Jährige nun schon für diese Menschen da, kennt ihre Wünsche und Bedürfnisse: „Ich trage gerne dazu bei, denjenigen eine Stimme zu geben, die keine haben. Ich bin damals für eine bestimmte Zeit als Freiwillige der Volontarius nach Bozen gekommen. Dank dieser Erfahrung habe ich erkannt, dass dies genau die Arbeit ist, die ich machen möchte.“

Tageszeitung: Frau Seyffarth, wie sieht die Arbeit der Streetworker momentan aus?

Diana Seyffarth: Ich kann sagen, dass sich die Arbeit der Streetworker verändert hat. Mittlerweile gibt es zwar viele Lockerungen, aber gerade am Anfang der Pandemie hatten wir – gezwungenermaßen- weniger Kontakt zu den Menschen, die auf der Straße leben. Meine Kollegen und Kolleginnen haben vor allem in der Mittagszeit Lunchpakete verteilt und dort versucht, sich mit den Menschen zu unterhalten. Die Streetworker waren also stets unterwegs. Uns war es wichtig, den Kontakt zu den obdachlosen Menschen aufrecht zu halten. Ihnen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Denn viele haben sich noch unsichtbarer, fast schon verlassen gefühlt. Viele Dienste waren zu oder eingeschränkt, niemand war mehr unterwegs. Mittlerweile haben wir praktisch den normalen Kontakt wieder aufgenommen. Es ist nun leichter an sie heranzukommen. Leider ist uns aufgefallen, dass es jetzt mehr Menschen gibt, die auf eine Notunterkunft angewiesen sind.

Also hat sich durch Corona die Lage verschärft?

Ja, die Zahl der Betroffenen ist über die letzten Monate gestiegen. Wir merken das vor allem bei der Essensausgabe. Es kommen jetzt mehr Menschen zu uns als vorher.

Und warum sind sie in diese schwierige Situation geraten?

Viele haben eine prekäre Arbeitssituation gehabt, die sie dann durch Corona verloren haben. Oder sie haben in Wohnverhältnissen gelebt, die durch Corona nicht mehr möglich waren. Ich mache ein Beispiel: Eine Person hat zum Beispiel auf der Couch von Freunden oder Bekannten geschlafen, als dann aber Corona kam, ging das nicht mehr. Das heißt, diese Person wusste nicht mehr, wo sie schlafen soll. Es trifft aber auch Leute, die sich sonst irgendwie über Wasser gehalten haben. Und wir gehen ja auch von einer neuen Art der Obdach- und Wohnungslosigkeit aus.

Foto: Piano B – Asia De Lorenzo

Was meinen Sie damit?

Menschen, die zwar momentan noch eine Wohnung haben, durch Corona aber arbeitslos geworden sind, zur Risikogruppe gehören oder sonst schon Schwierigkeiten hatten, und dann, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können oder eine prekäre Wohnsituation aufgeben müssen, ohne Wohnung dastehen. Wir gehen also davon aus, dass eine neue Gruppe von Obdachlosen durch Corona dazukommt.

Was wären das für Menschen?

Menschen wie Sie und ich, vielleicht geschieden, ohne Arbeit, an der Armutsgrenze lebend oder auch Alleinstehende, die keine sozialen Kontakte haben oder zumindest keine, die sie im Notfall finanziell unterstützen könnten. Man muss schon wissen, dass viele, die schon jetzt auf der Straße leben, vorher einen Job, eine Wohnung und vielleicht auch Familie hatten, aber aufgrund von persönlichen Lebenskrisen, weil sie ihre Heimat aus verschiedenen Gründen verlassen mussten oder einfach nicht so viel Glück im Leben hatten, alles verloren haben. Nun hat zum Beispiel ein Mann mit Mitte 50 Schwierigkeiten, wieder eine neue Arbeit zu finden und wenn dazu noch weitere Faktoren hinzukommen, kann das mitunter durchaus in die Wohnungslosigkeit führen.

Obdachlosigkeit kann also jeden treffen.

Ja, sie kann grundsätzlich Jede und Jeden treffen. Man geht mittlerweile schon seit vielen Jahren davon aus, dass Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit nicht selbstverschuldet ist. Niemand entscheidet sich freiwillig, auf der Straße zu leben. Dahinter steckt immer eine Geschichte.

Wie viele Menschen leben momentan in Bozen auf der Straße?

In der Zeit vor Covid-19 sind wir davon ausgegangen, dass zwischen 80 und 100 Personen effektiv auf der Straße schlafen. Andere sind in Einrichtungen untergebracht.

Vor welchen Problemen stehen diese Menschen?

Ich würde eher mit den Wünschen anfangen. Ich glaube, die Betroffenen wünschen sich vor allem Integration. Damit meine ich Integration in den Arbeitsmarkt, soziale Inklusion usw. Der größte Wunsch dieser Menschen ist es, wieder Teil der Gesellschaft zu sein, wieder akzeptiert zu werden. Wie ist man Teil der Gesellschaft? Indem man eine Arbeit, eine Wohnung und ein soziales Netzwerk hat. Jeder hat dann noch seine persönlichen Hindernisse. Was man aber auch berücksichtigen muss: Eine Arbeit und eine Wohnung zu finden, ist nicht so einfach. Zum einen sind die Wohnungspreise, zum Beispiel in Bozen, sehr hoch, und um etwa eine Arbeit zu kriegen, braucht man eine Wohnung. Da ist dieser bekannte Teufelskreislauf. Der Arbeitgeber möchte ja, dass man ausgeschlafen und geduscht zur Arbeit kommt.

Und auf der Straße?

Ich sage es immer so: Obwohl diese Menschen keine Arbeit haben, arbeiten sie den ganzen Tag über schon sehr viel, um überhaupt zu existieren. Die Organisation des Tages ist immer eine Überlebensstrategie zur Befriedigung der Grundbedürfnisse und zur Geldbeschaffung . Damit meine ich, dass sie ständig unterwegs sein müssen. Um 9 Uhr müssen sie bei dem Dienst sein, bei dem es Frühstück gibt, danach haben sie vielleicht einen Termin beim Sozialdienst oder bei der Arbeitsagentur, dann müssen sie schauen, wie sie zu Mittag zur Essensausgabe kommen, danach müssen sie sich Decken organisieren, am Nachmittag müssen sie Schlange stehen, um zu Kleidung zu kommen usw. Die Wohnungs- und Arbeitssuche fällt sehr schwer, weil oft schon die Kräfte an sich dafür fehlen . Viele wissen auch nicht, wo sie ihr Handy aufladen können. Wenn man aber auf Arbeitssuche ist, muss man aber erreichbar sein. Was noch hinzu kommt: Diese Menschen sind sehr müde. Wer die Nacht im Freien verbringt, schläft selten mehr als ein paar Stunden am Stück. Diese Müdigkeit zehrt an den Kräften. Nicht die Kälte, sondern der Schlafmangel ist das Schlimmste an der Obdachlosigkeit.

Seit zehn Jahren sind Sie bereits mit Menschen, die sozial ausgegrenzt sind. Wie hat sich Obdachlosigkeit in den vergangenen Jahren verändert?

Generell gibt es jetzt mehr Angebote für obdachlose Menschen. Es gibt mehr Schlafplätze, Essensmöglichkeiten, Beratungen usw. Und sonst würde ich sagen, dass sich das Phänomen Wohnungslosigkeit verändert hat. Als ich mit der Arbeit in Bozen angefangen habe, waren es bei der Essensausgabe im Schnitt 50 Personen. In der Zeit vor Covid-19 waren es schon 120. Das hat sich mehr als verdoppelt. Und auch die Personen selbst haben sich verändert. Es handelt sich schon lange nicht mehr um den klassischen Stereotyp des Obdachlosen, der keine Lust auf Arbeit hat und Alkohol trinkt. Wir begegnen vor allem jungen Leuten, Italienern, Europäern und vielen Migrantinnen und Migranten, die auf der Suche nach Arbeit oder generell einem besseren Leben sind.

Wie kann obdachlosen Menschen geholfen werden?

Jede oder jeder Einzelne kann schon einen kleinen Beitrag leisten, indem sie oder er den Betroffenen zeigt, dass sie nicht unsichtbar sind. Damit meine ich, dass man sie nicht ignoriert, sondern anschaut und sie vielleicht auch grüßt wenn sie den Blick erwidern. Das vermittelt ihnen: Ich sehe dich, du bist ein Mensch. Identitätsgüter wie Ehre, Anerkennung, Würde und Respekt sind enorm wichtig für sie und ihr Handeln ist geprägt von dem Bedürfnis, wieder eine Identität zu finden und ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Darin könnten wir sie als Gemeinschaft unterstützen.

Interview: Eva Maria Gapp

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (4)

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  • bernhart

    Falsche Mitleid.
    Bauern suchen Erntehelfer für jeden der arbeiten will gibt es eine arbeit,vile sind zufaul und das sollte nicht noch unterstützt werden.
    Die ganzen selbstgegründeten Vereine wie Volontaris sollten endlich aufwachen und die Personen zur arbeit ermuntern.
    Familien haben es genau so schwer , wenn nicht schwerer.
    Hilf dir selbst , dann hilft dir Gott.

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