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„In 100 Tagen sind wir tot“

Klemens Riegler betreibt eine Firma für Veranstaltungstechnik und leitet das legendäre Festival Steinegg-Live. Zusammen mit anderen beteiligt er sich am Montag an der Aktion deutscher Veranstalter  „Night of L(f)ight“, um auf die katastrophale Situation der Veranstaltungswirtschaft hinzuweisen.

TAGESZEITUNG Online: Herr Riegler, was ist Night of L(f)ight?

Klemens Riegler:  Das ist eine in Deutschland initiierte Aktion um auf die katastrophale Situation der Veranstaltungswirtschaft aufmerksam zu machen. Auch einige Südtiroler – im speziellen die technischen Eventdienstleister und Kulturstätten – haben sich der Initiative angeschlossen und werden am nächsten Montag Abend Gebäude, Veranstaltungsstätten, Theater oder Monumente rot anleuchten.

Die deutsche Eventwirtschaft, die einen Jahresumsatz von über 200 Mrd. Euroerwirtschaftet, sieht sich schon auf der Roten Liste der aussterbenden Branchen und schreibt wörtlich: „Die nächsten 100 Tage übersteht die

Veranstaltungswirtschaft nicht!“ Ist das übertrieben?

Warum übertrieben? Es handelt sich um eine riesige Branche. Das beginnt beim technischen Dienstleister und endet beim sogenannten kleinen Solo-Free-Lancer. Dazwischen finden sich Unternehmen aus den Bereichen Messebau, Eventagentur, Catering, Bühnenbau, Kongress, Event-Location, Diskothek, Veranstalter, Künstler, Dekorateur, … und alle entsprechenden Zulieferbereiche wie Logistik und Verwaltung oder sogar die Gärtnerei, die Geranien für die Bühnendeko liefert oder das Hotel, in welchem ganze Heerscharen von Technikern und Aufbauhelfern nächtigen. Irgendwie kommt dann noch die gesamte Kultur- und Kreativwirtschaft dazu. Da ging zuletzt fast Null … und ab jetzt vielleicht 20 bis 30 Prozent. Und das wohl noch über Monate.

Wie ist die Lage in Südtirol? Wie viele Betriebe sind betroffen, wie viele Beschäftigte arbeiten hierzulande in der Eventwirtschaft?

Die Lage ist überall gleich. Es fehlen die großen Events. Egal ob Konzert, Theater, Kulturfestival oder große Firmenveranstaltung.
Zur Anzahl der Betriebe und der Beschäftigen kann ich leider keine Zahlen liefern. Das ist sehr vielschichtig und umfasst 150 Disziplinen, die nicht als gemeinsame Lobby sichtbar sind. Und je nach Disziplin ist der eine mehr, der andere weniger betroffen. Die Veranstaltungstechnikfirma hat wohl beinahe Totalausfall, für den Blumenhändler ist es nur ein kleiner Teilbereich.

Wie hoch schätzen Sie die Umsatzeinbußen heuer ein?Das lässt sich leicht ausrechnen. Jene, die es voll trifft, werden heuer keine 30 Prozent machen.  Je nach Entwicklung der Situation könnten es vielleicht 40 Prozent werden. Mehr wird aber heuer nicht drin sein, wenn mehr als ein halbes Jahr futsch ist. Und dabei geht es nicht um Gewinneinbußen, sondern um große Verluste.
Wie es so schön heißt, arbeiten wir ja alle bis Ende November für Spesen und Staat und dann bis Weihnachten für den Gewinn. Heuer wird es dann entsprechend schlimm aussehen.

Kann der erlittene Verlust je wieder kompensiert werden?

Wie denn?  Ein Jahr hat 30 bis 40 verwertbare Wochen oder Wochenenden. Niemand könnte nächstes Jahr pro Woche die doppelte Dienstleistung erbringen. Und auch kein Veranstalter wird nächstes Jahr zwei Festivals oder zwei Feste organisieren. Alles heuer Abgesagte ist einfach auf 2021 verschoben. 2020 fehlt einfach im Kalender:  2020 is cancelled .

Die behördlichen Auflagen im Zuge der Corona-Krise machen Veranstaltungen quasi unmöglich. Was dürfen Sie aktuell überhaupt tun?

Kleine Sachen in äußerst reduzierter Form sind nun wieder möglich. Aber dafür braucht niemand einen großen Dienstleister. Wir als Betrieb dürften ja fast alles, aber es gibt keinen Auftraggeber, keine Veranstalter, keine größeren Events. Also keine Vollversammlung, kein Open-Air-Konzert, keine Messe, keinen Kongress, keine Firmenfeier, keine Party …

Welche Auswirkungen haben die Anticorona-Maßnahmen auf das Steinegg-Live-Festival? Findet es statt?

Steinegg Live ? gute Frage! Wir warten noch etwas ab und entscheiden dann, was wir machen dürfen und machen werden. Wir hatten schon vor der Krise einige Verträge unterschrieben. Das Steinegg Live Festival 2020 wird es in irgendeiner Form wohl geben. Wahrscheinlich keine großen Namen aber mit qualitativem Angebot. Zur Not eben mit weniger Publikum und bestuhlt.

Was erwarten Sie von der Politik?

Die Politik muss die Branchen oder die Sektoren als Ganzes wahrnehmen. Und verstehen, dass es da noch welche gibt, die kaum auffallen, aber schwerer und länger betroffen sind als alle anderen. Alle, die von Unterhaltung und Kultur direkt oder indirekt leben, sind betroffen. Wenn Kultur und Unterhaltung im nächsten Jahr noch möglich sein soll, dann wird es auch die entsprechenden Dienstleister noch brauchen. Ohne Unterstützung wird es die aber 2021 nicht mehr geben. Die Veranstaltungswirtschaft gehört zur aussterbenden Rasse … wenn man diesen Begriff (p.s. black lives matter) überhaupt noch verwenden darf.  Über das Wie der Hilfen muss man diskutieren. Aber in 100 Tagen brauchen wir nicht mehr reden. Denn dann wird es finster und sehr still sein.

Interview: Heinrich Schwazer

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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