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„Sehr groß und anders“

Berlin ist ein Magnet für junge Leute aus der ganzen Welt. Aber wie erklärt man den Zuhausegebliebenen  wie Berlin ist. Ein Versuch von Hannah Reisigl.

Jedes Mal, wenn ich zuhause bin, also in Bozen, werde ich von Leuten gefragt: „Na, wie ist Berlin?“ Dann werde ich immer etwas verlegen oder ungeduldig und wünschte mir eine präzisere Frage, auf die ich leichter antworten könnte. Was sollte ich über so viel reiches und freies Leben sagen, das Berlin bietet? Wie kann ich sagen, was die Stadt mit all ihren Kulturen, ihren verrückten und normalen Leute ist? Meine Antwort ist dann meist: „Sehr groß und anders.“

„Die einzigen, mit denen man in Berlin Deutsch spricht, sind die Kanacken“ sagt der Stand-up Comedian Felix Lobrecht und das trifft es ziemlich genau. Es ist zwar die Hauptstadt von Deutschland, doch in kaum einer anderen europäischen Stadt trifft man so viele Nationalitäten auf einem Haufen.

Als ich nach Berlin kam, bin ich in jeder freien Minute einfach durch die Stadt gegangen, um sie kennenzulernen. Meine einzige Strategie war, der Sonne nachzugehen und zu schauen, wo es mich hinführt. Irgendwann kam ich an einer Bar vorbei und pflanzte mich dort auf, um zum ersten Mal in meinen 19 Jahren alleine etwas trinken zu gehen (was mich im Übrigen sehr viel Überwindung kostete). Lauter Italiener*innen spazierten vorbei und plötzlich sprach ich auch mit dem Kellner Italienisch, was ich erst realisierte, als ich an meinem Bier schlürfte. Ich musste irgendwie in einem Viertel gelandet sein, in dem viele Italiener*innen leben. Ich wollte von Italien weg, und schon war ich wieder mitten drin.

In Berlin zu leben heißt, nie dumm angesehen zu werden. Oder eigentlich generell nie angesehen zu werden. Was in Bozen noch ausgefallen ist, ist hier noch nicht mal eines Blickes würdig.

In Berlin zu leben heißt, sich um 3 Uhr morgens zu verirren und fast in einem Heul-Krampf auszubrechen, weil man auch keinen Akku mehr auf dem Handy hat. Und weil Google Maps zum täglichen Begleiter und Freund geworden ist, weiß man weder vor noch zurück. Keine 5 Minuten später findet man sich in seiner eigenen Nachbarschaft wieder und fragt sich ehrlich, warum man das nicht früher erkannt nicht.

In Berlin zu leben heißt, morgens in die U-Bahn zu steigen und einen Mann dort sitzen zu sehen, neben ihm der größte Papagei, den ich je gesehen habe. An seinem Bein eine kleine Kette. Mit meinen Augen gehe ich der Kette nach und sehe, dass das andere Ende zu dem Gürtel des Mannes führt. Natürlich, sonst könnte der bunte Vogel ja wegfliegen und für immer in den ewigen Weiten des U-Bahn Schachtes verschwinden.

Am vierten Abend in Berlin war ich in einer Punk-Kneipe. Schon beim Reingehen kamen mir eine Wolke von Rauch und ganz merkwürdige Gerüche entgegen. Die Musik war schrecklich laut und generell schrecklich. Man konnte sich kaum unterhalten. Relativ schnell wurde ich von einem sehr auffällig gekleideten Punk angesprochen, der mir nach etwa 5 Minuten Extasy, Cocain und Gras anbot. Beim Sprechen musste er mir, weil die Musik so laut war, so nahekommen, dass mir seine gegelten Haare fast ins Auge stachen. Ein paar Schnäpse und Biere später philosophierten wir über Gott und die Welt und mir fiel auf, wie dumm er hinter seiner Hülle der Punk-Philosophie und in seiner aufgeblasenen Art eigentlich war. Der Abend endete so, dass ich ins Waschbecken kotzte und nach Hause ging.

Eines Abends war ich zum ersten Mal in einem Schwulenclub, im „Schwuz“, nicht unbedingt in der niedlichsten Gegend von Berlin. Der Club ist sehr wirr aufgebaut und man verliert sich sehr schnell darin. Wie es nicht anders kommen konnte, hatte ich nach fünf Minuten schon meine Leute verloren. Ich ging also alleine auf Entdeckungstour. Schon bald stieß ich auf zwei junge Männer und half dem einen, versaute Nachrichten seinem italienischen Freund zu schicken. Nachdem das Thema vom Tisch war, wurde ich gefragt, was ich denn eigentlich sei „homo, bi, trans, pan…“ Als ich antwortete, dass ich „nur“ hetero sei, hatte ich für die beiden wohl an Charme verloren und ich bekam nur ein „boring“ zurück. Daraufhin verschwanden die beiden in den Untiefen des Clubs und ich sah sie nie wieder. Auch das ist Berlin: plötzlich „normal“ zu sein.

Die wohl schönste Eigenschaft hier zu leben ist aber, dass du weder ein Nichts noch ein Jemand bist. Du kannst sein, wer du willst und wann du es willst. Groß und anders halt.

 

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