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„Das ist mehr als bedenklich“

Aus Angst vor einer Corona-Infektion scheuen Patienten mit Herzinfarkt- oder Schlaganfallsymptomen aktuell den Weg ins Krankenhaus. 

von Eva Maria Gapp

Norbert Pfeifer, Primar der Ersten Hilfe in Meran, hat eine beunruhigende Beobachtung gemacht: „Aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus scheuen Patienten mit Herzinfarkt- oder Schlaganfallsymptomen den Weg in die Notaufnahme. Das ist mehr als bedenklich.“

Zwar würden jetzt wieder mehr Patienten in die Notaufnahme kommen. „Während des Lockdowns war die Erste Hilfe fast leer. Mittlerweile kommen wieder 90 Patienten pro Tag in die Notaufnahme und es werden immer mehr“, sagt Pfeifer. Doch nach wie vor bleiben jene Patienten fern, die wirklich akuten Behandlungsbedarf haben.

„Das Problem ist, dass derzeit Patienten in die Notaufnahme kommen, die eigentlich kein Notfall sind. Sie müssten von ihrem Hausarzt behandelt werden. Und jene Menschen, die wirklich Hilfe bräuchten, kommen so gut wie gar nicht ins Krankenhaus. Das ist ein großes Problem“, sagt Pfeifer. Damit meint er Menschen mit Schmerzen im Brustbereich, die auf einen Herzinfarkt hindeuten oder beispielsweise auch Patienten, die über Symptome eines Schlaganfalls klagen wie Lähmungen im Gesicht oder der Extremitäten. Genau jene Menschen, die Hilfe am dringendsten nötig hätten.

„Vor Corona hatten wir im Schnitt 10 bis 15 Patienten pro Tag, die mit Schmerzen in der Brust in die Notaufnahme gekommen sind. Im Moment sind es gerade mal zwei, drei Patienten innerhalb von zwei Tagen. Das ist eindeutig noch zu wenig“, so Pfeifer. Denn das heißt nicht, dass diese Krankheiten plötzlich einfach weniger werden würden.

„Eigentlich könnte man denken, dass das eine gute Nachricht ist. Doch das ist weit gefehlt. Nur weil es weniger Herzinfarkt-Notfälle gibt, heißt das nicht, dass weniger Menschen einen Herzinfarkt erleiden. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass sie aus Angst vor einer Corona-Infektion zu Hause bleiben und glauben, die Beschwerden aussitzen zu können. Das kann aber schwere gesundheitliche Folgen nach sich ziehen. Krankheiten lassen sich nicht aussitzen“, sagt Pfeifer.

Der Primar macht eindringlich klar: „Wer aus Angst vor einer Corona-Infektion zögert, den Notarzt zu rufen, riskiert sein Leben. Es können lebenslange körperliche Einschränkungen die Folge sein – oder der Tod.“ Es sei also möglich, dass einige Menschen auch deswegen gestorben sind, weil sie einen Herzinfarkt hatten und aus Angst vor Corona nicht in die Notaufnahme gegangen sind. „Davon müssen wir ausgehen“, sagt der Primar.

Deshalb appelliert Pfeifer an die Menschen: „Wer Symptome etwa auf einen Herzinfarkt oder auf eine andere schwerwiegende Erkrankung verspürt, sollte unbedingt in die Notaufnahme kommen. Das Risiko, an einer Herzerkrankung oder an einem Schlaganfall zu sterben, ist weitaus höher als das Risiko, sich eine schwerwiegende Coronavirus-Infektion im Krankenhaus zuzuziehen. Bitte zögert nicht.“ Gerade bei Herzinfarkten und Schlaganfällen zählt jede Minute. „Je früher zum Beispiel ein Schlaganfall im Krankenhaus behandelt wird, umso besser sind die Chancen, dass sich ein Patient davon erholt“, fügt Pfeifer hinzu.

Die Furcht, sich im Krankenhaus mit dem Virus zu infizieren, sei zwar nachvollziehbar, aber laut Pfeifer unbegründet. „Die Menschen brauchen wirklich keine Angst haben. Es wird alles dafür getan, das Risiko einer Ansteckung mit Coronavirus zu minimieren. Es werden strenge Hygiene- und Schutzmaßnahmen eingehalten und es gibt unterschiedliche Bereiche für Covid- und Nicht-Covid-19-Patienten. Wir haben die Situation in der Notaufnahme unter der Kontrolle“, betont er. Patienten würden unmittelbar getrennt, sobald ein Corona-Verdacht besteht. Und vor der Aufnahme der Patienten würde man jeden Patienten einer Kontrolle unterziehen bzw. einen Abstrich durchführen.

Dass Patienten Angst vor einer Corona-Ansteckung haben, kann auch Martin Maffei, Direktor der onkologischen Strahlentherapie in Bozen, bestätigen: „Es gibt Studien, wonach jeder Dritte zurzeit Angst hat, ins Krankenhaus zu gehen – und zwar wegen Corona.“

Er sehe das vor allem bei seinen Krebspatienten: „Krebspatienten haben wegen Corona noch mehr Angst als sonst. Wir sind nach wie vor damit beschäftigt, uns um die Ängste dieser Menschen zu kümmern. Viele sind verunsichert, sie haben Angst, sich bei der Strahlentherapie oder der Chemotherapie mit dem Coronavirus zu infizieren. Krebspatienten gelten ja als besonders gefährdet. Wir müssen sie dann immer wieder beruhigen und aufklären“, sagt er.

Denn wenn Krebspatienten den Gang zum Arzt scheuen würden, habe das unter Umständen fatale Folgen: „Bei einem Tumor kann eine Verzögerung bedeuten, dass die Erkrankung gar nicht mehr oder mit sehr viel schlechteren Heilungschancen behandelt werden kann.“ Hinzu kommt: Der Krebs wächst weiter, trotz Corona. Laut Maffei hat seit der Corona-Krise jeder Dritte Angst mit der radioonkologischen Therapie zu beginnen.

Maffei und seinen Kollegen gelang es bisher aber immer, die Patienten doch noch zu überzeugen, die Krebstherapie zu machen oder weiterzuführen: „Wir haben auch weiterhin Krebspatienten therapiert. Behandlungen wurden nicht abgesagt. Und bei keinem Patienten musste die Therapie so weit nach hinten verlegt werden, dass mit schwerwiegenden Konsequenzen zu rechnen ist.“

Dennoch weiß auch er, dass nicht überlebensnotwendige Operationen und Früherkennungsprogramme gekürzt wurden – und Menschen aus Angst vor einer Ansteckung das Krankenhaus meiden. Wissenschaflter und Ärzte warnen schon seit Längerem vor einer „Bugwelle an zu spät diagnostizierten Krebsfällen“. Die große Frage, die sich hier also stellt, ist: Werden wegen des Corona-Lockdowns künftig mehr Krebspatienten sterben als sonst? Kommt es zu einem Anstieg zu spät erkannter Fälle?

Eine Studie aus Großbritannien, die in der renommierten Fachzeitschrift „British Medical Journal“ vor kurzem veröffentlicht wurde, hat sich genau mit dieser Frage beschäftigt. Das Ergebnis der Studie: In den kommenden zwölf Monaten könnten wegen des Corona-Lockdowns rund 20 Prozent mehr neu diagnostizierte Krebspatienten sterben als sonst in diesem Zeitraum. Zu diesem Schätzwert kommen die Wissenschaftler wegen der stark zurückgegangenen Aktivitäten bei der Diagnostik und Behandlung von Krebserkrankungen.

Und wie sieht es hierzulande aus? Kommt es auch in Südtirol zu einem ähnlich dramatischen Nebeneffekt der Pandemie? Maffei gehe nicht von so einem hohen Wert für Südtirol aus. Dennoch ist sich auch der 43-Jährige der Gefahr bewusst: „Es wäre gelogen, wenn ich jetzt sagen würde, dieses Problem haben wir hier in Südtirol nicht. Es besteht durchaus die Gefahr, dass die Zahl der Krebstoten wegen der Corona-Krise steigen könnte. Wie groß das Problem aber tatsächlich ist, können wir erst in einem halben Jahr oder Jahr sehen.“

Deshalb appelliert auch Maffei an all seine Patienten: „Krebspatienten brauchen wirklich keine Angst haben, ins Krankenhaus zu kommen. Unsere Station ist mittlerweile zu einer „Festung“ umgebaut worden. Das heißt, es kommen bei uns nur das Personal und Patienten herein. Für Vertreter und Lieferanten ist aktuell der Eintritt tabu.“ Begleitpersonen dürfen nur in Ausnahmefällen herein und bei jedem Patient und Mitarbeiter wird zum Beispiel täglich Fieber gemessen. „Auch wir Mitarbeiter werden laufend kontrolliert, wir arbeiten nur mit Schutzmaske und bei Bedarf mit Schutzkleidung. Das Risiko ist also sehr gering, sich bei uns mit dem Virus anzustecken“, resümiert Maffei.

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (9)

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  • unglaublich

    Vielleicht (eher nicht – da könnten ja Fehler ans Licht kommen) werden wir einmal über die sog. Kolateralschäden aufgeklärt , welche durch die Corona-Panik-Stimmung entstanden sind. Angst und Panik ist und bleibt immer ein schlechter Ratgeber in Krisensituationen.

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