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„Das geht an die Substanz“

Wird die Corona-Krise unsere Gesellschaft verändern? Werden wir uns je wieder die Hand geben? Der Soziologe Franz Kolland über das Leben nach Corona.

Tageszeitung: Herr Kolland, wegen der Corona-Krise gibt es Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote und Polizeikontrollen. Es werden also Freiheiten abgebaut und Grundrechte ausgesetzt, aber wir wehren uns nicht. Sind wir eine gehorsame Gesellschaft?

Franz Kolland: Das glaube ich nicht. Primär ist diese Einstellung und das Befolgen dieser Regeln damit verknüpft, dass das Gesundheitsrisiko als hoch eingestuft wird. Die Menschen befolgen die Regeln, um ihre eigene Gesundheit zu schützen. Sie sind nicht gehorsam. Das ist eher ein Selbstschutz. Wenn dies aber über mehrere Monate andauert, wird sich diese Haltung ändern. Wir sind mittlerweile auch an einem Punkt, an dem wir sehr aufpassen müssen, was die Rechtfertigung von Maßnahmen angeht, die unsere Freiheiten einschränken.

Wird die Corona-Krise unsere Gesellschaft verändern?

Ganz sicher. Die Corona-Krise wird zu anhaltenden Veränderungen in unserer Gesellschaft führen. Die Frage ist: Wie werden sich die gesellschaftlichen Gruppen nach der Krise positionieren? Vor der Krise hatten wir eine Tendenz in Richtung einer Klimaorientierung, einer ökosozialen Orientierung der Gesellschaft. Doch kann das wieder aufgenommen werden? Möglich wäre es. Es kann aber auch sein, dass die Wirtschaft sagt, wir sind so stark von der Krise betroffen. Wir können jetzt nicht mehr auf Klimaziele und ökologische Fragen Rücksicht nehmen. Wir müssen schauen, dass wir um jeden Preis Wachstum erzielen.

Und eine andere Frage ist die der sozialen Gerechtigkeit. Da gibt es unterschiedliche Aspekte. Bestimmte Bevölkerungsgruppen werden stärker unter der Pandemie zu leiden haben als andere. Den Wohlhabenden schadet diese Krise vergleichsweise wenig. Menschen, die in Homeoffice gut arbeiten können, Akademiker sind und vielleicht auch noch in einer größeren Wohnung leben, sind viel weniger belastet. Personen mit niedrigem sozialem Status sind hingegen stärker von den Folgen der Krise betroffen. Sie haben auch mit größeren Sorgen und Ängsten zu kämpfen.

Ein Sozialwissenschaftler hat erst kürzlich gesagt: Es gibt eine Hierarchie der Not. Die Not wird nicht in jeder gesellschaftlichen Gruppe gleich erlebt, und prägt sich gleich stark aus. Das trifft es sehr gut. Wer sozusagen unten steht, leidet mehr, und die Corona-Krise verdeutlicht und verschärft die soziale Ungleichheit. Die Schwächeren tragen die größere Last und das größere Risiko. Man kann davon ausgehen, dass die meisten Menschen nach der Krise erstmal ärmer sein werden. Die Frage ist: Ist die Gesellschaft dann auch wirklich bereit, solidarisch zu sein? Ich sehe da große Probleme.

Wird sich die Einstellung zur Medizin verändern?

Ja, wir werden die Gesundheit aber auch die Medizin anders sehen. Wir werden mit diesem Gut anders umgehen als wir es bisher getan haben. Die Gesundheit wird nicht mehr als etwas Selbstverständliches erachtet. Die Frage ist auch: Wird die Pflege, das Gesundheitssystem einen höheren Stellenwert bekommen? Bisher hat man immer den Eindruck gehabt, dass dieser Bereich an Wertschätzung verloren hat. Das könnte sich nach Corona ändern. Der „weiße Beruf“ könnte an Bedeutung gewinnen.

Welche Auswirkungen wird die Krise auf unser soziales Miteinander haben?

Die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in der Gesellschaft sind durch Ambivalenzen gekennzeichnet. In der momentanen Situation ist dieser Spannungszustand verstärkt. Ich sehe, dass es jeden Tag beim Einkaufen einen Konflikt gibt. Ich kann mich nicht daran erinnern, in den letzten Jahren solche Streitfälle gesehen zu haben. Menschen streiten sich, weil man sich zu nahe gekommen ist, oder weil jemand das letzte Mehl fürs Brot backen genommen hat. Die Konflikte in den engen Räumen sind nicht ohne. Da ist ein großes Eskalationspotenzial vorhanden. Das liegt auch daran, dass die Menschen sehr frustriert sind. Da wird man dann nach der Krise einiges tun müssen, um dies wieder zu besänftigen. Ansonsten wird das die Gesellschaft eher spalten, als enger zusammenrücken. In den Familien hingegen sehe ich keine großen Veränderungen. Das gibt es sogar ein Mehr an Solidarität. Die Jüngeren helfen den Älteren. Die Not führt zu einem stärkeren familiären Zusammenhalt.

Derzeit lautet ja die Devise: Kein Küssen, keine Umarmungen, kein Händeschütteln. Welche Auswirkungen hat diese körperliche Distanz auf die Menschen?

Soziale Distanz ist auf jeden Fall ein großes Problem. Sie erhöht das Risiko depressiv zu werden und sich einsam zu fühlen. Vor allem Umarmungen sind sehr wichtig. Man weiß, dass bei Erwachsenen, die lange oder gar nicht umarmt oder berührt wurden, der fehlende Körperkontakt zu Depressionen führt. Im Allgemeinen kann ein Körperkontaktdefizit das Immunsystem schwächen. Und was man auch nicht vergessen darf ist: Je länger die Phase der körperlichen Distanz andauert, desto mehr werden sich auch die sozialen Beziehungen verändern.

Was meinen Sie damit?

Ja, soziales Verhalten ist gelerntes Verhalten. Wenn wir monatelang lernen, dem anderen nicht zu nahe zu treten, dem anderen nicht die Hand zu schütteln, hat das auf jeden Fall eine Auswirkung, die ich nicht unterschätzen würde. Wir setzen dieses bestimmte Verhalten auch dann fort, wenn sich die Bedingungen ändern. Das kann dann in weiterer Folge dazu führen, dass wir unsere Beziehungen neu überlegen müssen.

Dass wir zum Beispiel nicht mehr die Hand schütteln, sondern den Kopf nicken, um uns zu begrüßen…

Ja, es könnte zum Beispiel, was wir von asiatischen Kulturen kennen, zu einer verstärkten Gestik über Kopfschütteln kommen. Und lange „verordnetes“ Social Distancing könnte zu einer Verschiebung im Kontaktverhalten führen. Das heißt stärkere Nahkontakte, wie Umarmen und Händeschütteln im sozialen Nahraum, damit meine ich Familie und enge Freunde, und schwächere Fernkontakte zu Fremden. Man wird künftig vorsichtiger und zurückhaltender sein, was den Kontakt mit Fremden anbelangt. So nach dem Motto: Wen umarme ich, wen nicht? Wem kann ich noch vertrauen?

Wird der Handschlag die Corona-Krise überleben?

Ganz sicher. Auch eine einjährige Krise würde uns dieses Ritual nicht nehmen. Dafür ist es zu tief verwurzelt.

Eine Frage, die sich jetzt ganz viele stellen ist: Wie lange hält eine Gesellschaft die jetzige Isolierung überhaupt aus?

Lange sicher nicht. Das Konfliktpotenzial ist bereits sehr hoch. Ich vermute, dass die Unruhe in der Gesellschaft spätestens nach zwei Monaten sehr, sehr groß wird. Der wohltuende Frieden, den wir gerade erleben, wird bald verloren gehen. Das geht an die Substanz der Gesellschaft. Es braucht einen Planungshorizont.

Was könnte im schlimmsten Fall passieren?

Es könnte eine sehr hohe Arbeitslosigkeit entstehen, und aus dieser Situation heraus eine sehr starke Krankheitsanfälligkeit und eine sehr starke Zunahme von Gewaltdelikten. Menschen werden dann zivilen Ungehorsam ausüben, aktiv Regeln brechen. Man wird das dann nicht mehr unter Kontrolle bringen. Der Mensch kann sehr gut sabotieren, ohne dass man es merkt. Das würde die Gesellschaft schwer schädigen. In Italien ist das aber nicht so einfach von der Hand zu weisen.

Noch eine letzte Frage: Wie könnte eine sogenannte „Nach-Corona-Gesellschaft“ aussehen?

Es werden sicherlich die Nah-Beziehungen bedeutsamer werden. Wir werden vielleicht von Bozen nach Brixen fahren, oder von Meran nach Bozen, aber sicherlich nicht nach Kenia. Wir werden uns freuen, wenn wir irgendwo aufs Land fahren können, oder zum See. Ich würde also sagen, dass es nach Jahrzehnten der Globalisierung eine gewisse Rückbesinnung auf das Nationale und Lokale gibt. Es gibt also schon eine gewisse Tendenz, dass sich das „Globale reduziert“, auch das Reisen wird langfristig zurückgehen. Wir werden auch für längere Zeit Schutzmasken tragen müssen, das ist auch nicht ganz unerheblich.

Es ist auch zu vermuten, dass der Staat eine stärkere Rolle einnehmen wird. In den letzten 50 Jahren wurde der Staat sehr zurückgefahren. Doch jetzt könnte er auf einmal in einer Weise zurückkommen, wie wir es lange nicht mehr gesehen haben. Er könnte große Fluggesellschaften, wesentliche Infrastrukturunternehmen übernehmen. Das hat natürlich auch erhebliche Auswirkungen.

Was man bisher auch gesehen hat, ist eine große Solidarität gegenüber den Risikogruppen. Das ist eine ungewöhnliche Situation. In der Vergangenheit haben wir Risikogruppen eher an den Rand geschoben. Wenn man an den Nationalsozialismus denkt, sind sie getötet worden. Jetzt passiert das Gegenteil. Man zeigt sich ihnen gegenüber solidarisch. Um diese Gruppen zu schützen, nehmen wir einiges in Kauf. Das ist eine großartige Geschichte. Ich hoffe, dass dies nach der Krise beibehalten bleibt.

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