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Dritter April Zwanzigzwanzig. Vormittag.

Jörg Zemmler: Mir ist die Relevanz abhandengekommen.

Dritter April Zwanzigzwanzig. Vormittag.

Von Jörg Zemmler

Der Küchentisch ist voll mit gelben Post-its. Voller als sonst. Auch die Wand hinter dem Computer, auch die eine Wand in der Küche. Darauf Gedanken, die Gedichte werden könnten, Sachen, die ich machen möchte, plane. Auf einem steht: „Nach Corona Nachbarn kennenlernen. Hingehen.“ Ob ich es machen werde? Ich hoffe es. Zugegeben: unzuverlässig bin ich oft und schüchtern. Auf einem anderen: „Nie aufhören, Musik zu hören.“ Daran halte ich mich, nicht immer. Ein kleines Gedicht, „davor / zu spät“. Ja. Es ist ein großer Unterschied zwischen „danach“ und „zu spät“.

Selten das Haus verlassen. So selten wie möglich. Nicht nur, weil verboten. Weil richtig. Und solidarisch. Besonders mit jenen, die eben nicht wie ich einen Balkon haben und auch und besonders zu Hause bleiben. Aber ich, wir, zum einen: eh am Land, also eher Glück gehabt, auch die meisten nicht im Gesundheitsbereich, wie er heißt, tätig, oder an der Kasse im noch offenen Geschäft, in der Apotheke, der Post, in der Politik, manche arbeiten von zu Hause aus, andere können das nicht. Ich schon. Wobei: arbeiten? Mir ist die Relevanz abhandengekommen. Gerade wurde ein Zyklus Gedichte fertig, fast jeden Tag programmiere ich neue Musik am Computer, fast jeden Tag entstehen neue Bilder am Balkon, gesprayte Gedichte. Ja und? Es ist nicht besser oder schlechter als die Gartenarbeit, die gegenüber verrichtet wird. Das war, nebenbei, oder hauptsächlich: schon immer so. Nur jetzt: bewusster.

Gestern Nachmittag war ich Einkaufen, Miriam ist mitgekommen. Sie siebzehn und die Tochter meiner Schwester Maria, und ihres mittlerweile Ehemannes Markus. Sie haben letzten August geheiratet. Was für ein schönes Fest das war. Der ganze Tag. Abgesehen von dem Hokusp… aber egal. 99 Prozent 1A. Also Miriam und ich, Maske, Handschuhe. Zufällig treffen wir Sibylle, auch am Weg zum Einkaufen. Sicherheitsabstand. Miriam am rechten Gehsteig, Sibylle am linken, ich auf der Straße, mittig. Das geht. Autos sind gerade selten. Sibylle erzählt, sie wisse jetzt wieder alles von den Griechen, den Römern, der Völkerwanderung. Sie hat drei Söhne im Schulalter. Miriam sagt, sie sei seit der Ausgangsbeschränkung nicht mehr im Dorf gewesen. Ich sage, ich habe mittwochs Geburtstag. Alles stimmt. Und nichts. Das wichtigste, das wir kaufen, sind bunte Straßenkreiden, am Heimweg malen Miriam und ich kurz die Kreuzung an. Sollte das nicht erlaubt sein, rufen Sie in der Redaktion an, beschweren Sie sich lautstark. Die Familie meiner Schwester wohnt gleich nebenan und wir helfen uns. Felix, der Bruder von Miriam, braucht für seine Gesellenprüfung ein Grafikprogramm. Ich bin hier der Computerexperte, obwohl Schriftsteller eigentlich.

Soweit vom Glück im Unglück. Hingegen: die Menschen auf Lesbos. Betonung: Menschen. Haben Sie das mitbekommen, dass in Österreich die Polizei rumgefahren ist mit „I am from Austria“ aus Lautsprechern? Mehr dazu nicht. Es gibt Zusammenhänge. Überall. Und Amerika. Und Afrika. Und immer wieder Bergamo. Und Mailand. Und Bozen. Und das Altersheim in Kastelruth. Es trägt den Namen „Martin“, „Martinsheim“. Das war der mit dem Mantel. Schon wieder ein Zusammenhang vielleicht. Darüber denke ich nach.

Die Whatsappgruppen laufen heiß. Treffpunkt Internet. Eine dieser Gruppen nennt sich „Watten“ und besteht seit über zwei Jahren. Heinz, Ulli, Valli, Isabel, ich. In diesen mehr als 24 Monaten, also über 720 Tage, 720, haben wir es ganze dreimal geschafft, uns zum Watten zu treffen. Nur drei Mal. Immer war etwas, immer etwas dazwischen. Hingegen jetzt: alle beide letzten Samstage. Online natürlich, aber es war toll. Und dann, wenn die Krise vorbei ist, wieder nur ein-zweimal im Jahr? Ich hoffe nicht. Mit Ulli habe ich letztens auch telefoniert, zweieinhalb Stunden lang, das ist Weltrekord für mich, ich mag Telefonieren nicht. Wir haben gesagt, dass, wenn wir so weiter machen, so wie –davor-, werden wir uns in diesem Leben vielleicht noch 50 Mal sehen, dann war`s das. Gerade lässt sich gut über Prioritäten nachdenken. In meinem Kopf ist viel los, aber ich mache natürlich auch etwas dagegen: „Hindu Squat“ hat mir Kaz empfohlen. Kazuaki ist aus Japan und lebt in den Niederlanden. Wie es ihm wohl geht. Ich muss ihm schreiben.

„Hindu Squat“ ist eine Turnübung. Aber eben: gerade schreibe ich und turne nicht und es scheint mir interessant über diese zwei Worte nachzudenken: „Turnen“ und „Übung“. Eventuell in Bezug auf „Hampelmann“ und „Ernstfall“. Und wann jeweils das eine und wann das andere ist.

Zur Person

Jörg Zemmler, 1975 geboren, lebt in Wien und Seis. Er ist Autor und Musiker. 2004 erschien „Leihworte“ (und „-töne“) bei edition ch, Wien, 2015 „papierflieger / luft“ bei Klever, Wien. Gewann u. a. 2013 den Ö1 Lyrikpreis „Hautnah“. Zuletzt erschienen: Seiltänzer und Zaungäste. Erzählungen. Klever Verlag.

Info

Die Sammlung der Texte, die Südtiroler Schriftsteller*innen zu und während der Quarantäne verfassen und als Reihe in der Südtiroler Tageszeitung publiziert werden, mündet in ein Lesefest von Literatur Lana. Zu Beginn des Sommers, hoffentlich, sollen die Kurzerzählungen, Essays, Gedichte oder Notizen in einem langen Reigen gelesen und mit ihnen ein Wiedersehen gefeiert werden. Das Projekt unterstützt Schriftsteller*innen in Zeiten von Corona.

,www.literaturlana.com,

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