Du befindest dich hier: Home » Kultur » Voll das Leben

Voll das Leben

Voll das Leben

Von Waltraud Mittich

Ich habe seit heute, Donnerstag 2. April 2020, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Bauchgrimmen,  kein Fieber, kein Husten, kein Schnupfen, keine Halsschmerzen.  Frau beobachtet sich sehr genau in Corona Zeiten. Ich bin eine Risiko- Person, Teil einer Risiko Gruppe. Die Wörter haben  sich eingeschlichen, sie sind ganz einfach da. Ich bin 74 Jahre alt, habe Hypertonie,  sie wird behandelt, sonst fit. Risiko, das Wort bewegt  sich zwischen Abenteuer, Vabanquespiel und Gefahr.  Im Augenblick bleibt nur die Gefahr, das Abenteuer ist zu verschieben.

Es gibt einen wunderbaren Satz von Olha Kobyljanska, geboren in der Bukowina gestorben 1942  in Czernowitz (Ukraine) „ Jetzt lebe ich noch nicht voll, aber später“ Der Satz berührt mich dort, wo ich am weiblichsten bin. Dieses Warten auf etwas, was sich nicht einlösen lässt. Nie. Weil immer etwas dazwischen kommt. Oder sich aufsparen für die Zeit, wo dieses Voll – dieses Äusserste-  möglich sein wird oder eine  Zeit, in der frau sich es erlaubt.  Es kommt aber ganz sicher  für jeden eine Zeit, in der das Voll nicht mehr möglich ist. – Eine solche Zeit habe ich wohl jetzt. Teil einer Risikogruppe. Das klingt  trotzdem dramatischer als ich es empfinde. Eigentlich ist es ein sehr intensives Lebensgefühl.

Intensiv denken, in drei Wochen Quarantäne  bleibt das nicht aus. Nachdenken über sein Eigenes, über das Ganze. Was oder wer mir am meisten fehlt, sind meine Enkelkinder, Kinder und Schwiegerkinder in Zürich. Nicht dabei sein zu können, wenn die kleine Alma, 1,9 Jahre, ihre ersten ganzen Sätze spricht, wie sie sich die Sprache erarbeitet in diesen langen Monaten, ist schmerzhaft und traurig. Und Hannah, 4,5 Jahre, die sich für das Virus interessiert, aber beim Video telefonieren davonläuft, weil sie die Oma in vivo sehen will. Ich halte das schwer aus.

Was das Ganze angeht, kommen wir wohl schwer umhin, unser Wirtschaften, Leben und Gestalten auf den Prüfstand zu heben.  Ich selbst gehöre zur Nachkriegsgeneration in den sogenannten Wohlfahrtsstaaten des 20.Jahrhunderts,deren Leben geprägt ist von einem Aufschwung sondergleichen in allen Bereichen. Noch nie im Laufe der Geschichte ist es einer so großen Anzahl von Menschen(materiell, aber nicht nur) so gut gegangen wie uns. Wir kamen zwar aus der Armut, manche  mussten auch hungern, aber  ein Großteil von uns hatte dann ein gutes Leben. Wir haben aufgebaut. Aber ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn uns heute  Umweltprobleme über den Kopf wachsen, die niemand mehr leugnen kann, dann sind w i r  in der Schuld.  Wir haben uns selbst nicht eingebremst. Ob das Virus mit der Umweltproblematik zusammenhängt, mit dem Feinstaub , mit der Luftverschmutzung, wissen wir  (noch) nicht. Wir als Generation haben es eben auch vernachlässigt, der Wissenschaft einen entsprechenden Rang zu verleihen, Achtung und  entsprechende Bezahlung. In dieser Krise sehen wir, dass Wissenschaft und Forschung systemrelevant sind. Wir können und müssen auf den Impfstoff hoffen, den  uns selbsternannte Virologen und  fehl geleitete Impfgegner  nicht erfinden werden.

Was können wir tun, wir- die Alten? Wachsam betrachtend gefühlsstark dabei sein, Wissen einbringen, die Solidarität  unterstützen und die Liebe zu allem, was da kreucht und fleucht, Mensch und Tier und Pflanze.  „ EINE REVOLTE  DER LIEBE GEGEN DAS ENDE  DER LIEBE  IN JEDEM AUGENBLICK  UND BIS ZUM ENDE“(I. Bachmann in „Der gute Gott von Manhattan).

What else? Es ist keine besonders gute Zeit zum Schreiben. Sie steht zwar zur Verfügung, aber die Gedanken sind sprunghaft, springen immer wieder dorthin, wo ich sie nicht haben will: zum Virus und zur Krise. Lesen ist wie immer ein Trost,  eine Lust und ein Zeitvertreib. Wälzer sind gut in solchen Zeitabschnitten. Ich habe gerade einen 600-seitigen hinter mir: Der Glaspalast von Amitav Gosh Buch. Es ist eine Familiensaga aus Birma- Myanmar, die mit der Vertreibung des Königs beginnt und bei  Aung San Sun Kyi endet. Ein Satz ist mir hängen geblieben, den Gosh eine Schriftstellerin sagen lässt: Ein Wort auf dem Papier ist wie das Anschlagen eines Instruments. Meine Leser lassen die Musik in ihren Köpfen erklingen, und jeder hört sie anders.

Was bleibt übrig zu tun? Das Leben zu lieben, den jungen Frauen,  es zu empfangen, zu gebären und groß zu ziehen mit neuen, sanften Vätern; zu arbeiten, zu denken, zu forschen zu unterrichten, zu schreiben …..   den alten Frauen, voll der Liebe zu sein,  ihre Enkel zu lieben und  sie zu lehren, schön ist es zu leben, in allen Facetten, voll das Leben.

Beenden will ich meinen Beitrag allerdings mit einem Liedtext von Prince:

A volte nevica ad aprile

A volte mi sento male, cosi`male

A volte vorrei che la vita non finisse mai

 tutte le cose buone, dicono non durano mai

 

 

 

Zur Person

Waltraud Mittich, in Bad Ischl geboren, studierte „Lingue e letterature straniere e moderne“ an der Universität Padua, sie lebt in Bruneck. Sie veröffentlichte mehrere Bücher bei Skarabäus und in der Edition Raetia.  2019 erschien in der Edition Laurin, Innsbruck, ihr jüngster Roman „Sanpietrini“.

Info

Die Sammlung der Texte, die Südtiroler Schriftsteller*innen zu und während der Quarantäne verfassen und als Reihe in der Südtiroler Tageszeitung publiziert werden, mündet in ein Lesefest von Literatur Lana. Zu Beginn des Sommers, hoffentlich, sollen die Kurzerzählungen, Essays, Gedichte oder Notizen in einem langen Reigen gelesen und mit ihnen ein Wiedersehen gefeiert werden. Das Projekt unterstützt Schriftsteller*innen in Zeiten von Corona.

,www.literaturlana.com,

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentar abgeben

Du musst dich EINLOGGEN um einen Kommentar abzugeben.

2024 ® © Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH/Srl Impressum | Privacy Policy | Netiquette & Nutzerbedingungen | AGB | Privacy-Einstellungen

Nach oben scrollen