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„Erdogan ist kein verlässlicher Partner“

Für Christoph Perathoner, Experte für internationales Recht, ist das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU gescheitert. Droht damit eine neue Flüchtlingskrise?

Tageszeitung: Herr Perathoner, der türkische Präsident Erdogan hat seine Drohung wahr gemacht und die Grenzen nach Europa für Flüchtlinge geöffnet. Tausende Menschen harren nun an der türkisch-griechischen Grenze aus. Ist das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei damit gescheitert?

Christoph Perathoner: In meinen Augen ist das Verhalten von Erdogan ein ganz klarer Vertragsbruch. Die Europäische Union hat diesen völkerrechtlichen Vertrag am 18. März 2016 mit der Türkei abgeschlossen, mit dem Ziel die zunehmenden Flüchtlingszahlen einzudämmen. Dafür hat die Europäische Union sechs Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und bezahlt. Dieser Schritt ist abseits der rechtlichen Bewertung auch humanitär ein dramatischer Schritt. Erdogan betreibt hier ein böses Spiel mit der EU.

Wie konnte es so weit kommen? Was will Erdogan damit bezwecken?

Hinter Erdogans Schritt, die Grenzen zu öffnen, steht eine ganz klare Strategie. Er will damit den Druck auf die Europäische Union erhöhen. Erdogan hat außenpolitisch mit Syrien, aber auch bei seinem Interventionsversuch in Libyen und den internationalen Beziehungen zu Russland grobe Fehler begangen. Aber auch innenpolitisch macht er laufend Fehler, er ist nicht mehr unumstritten. Er hatte schon früher mit der Öffnung der Grenzen gedroht, sollte er nicht zusätzliche finanzielle Unterstützung erhalten. Damit will Erdogan erreichen, dass die EU-Gelder direkt in seinen Haushalt fließen und nicht wie derzeit über Hilfsorganisationen an die Flüchtlinge vor Ort gehen. Es geht also zum einen um Geld. Erdogan braucht allerdings auch dringend Unterstützung für seine misslungene Syrien-Politik. Erdogan wollte den Bürgerkrieg in Syrien nutzen, um die Kontrolle über diesen Staat zu erlangen. Allerdings hat er sich dabei verspekuliert, weil Syrien von Russland unterstützt wird. Wir brauchen uns hier nur die letzten Ereignisse im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um Rebellenhochburg Idlib anzusehen. Die Situation ist eskaliert und es ist zu einem regelrechten Krieg zwischen der Türkei und dem Assad-Regime in Syrien gekommen. Das ist absolut nicht im Sinne der EU. Die humanitäre Lange in der Grenzprovinz um Idlib ist sehr schlimm. Erdogan möchte dieses Gebiet unter seiner Kontrolle bringen, aber wohl auch verhindern, dass die Armee des syrischen Regimes Idlib überrennt, weil sonst noch mehr Flüchtlinge in die Türkei strömen könnten. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Türkei wirtschaftlich nicht gut dasteht. Damit schwindet auch bei den eigenen Bürgern die Akzeptanz für die Flüchtlinge und bringt Erdogan somit auch im eigenen Land unter Druck. Mit dem Durchwinken der Flüchtlinge versucht Erdogan die eigenen Bürger zu beruhigen.

Erdogan benutzt also die Flüchtlinge, um seine eigenen Interessen durchzusetzen…

Ja, das ist richtig. Erdogan benutzt die Flüchtlinge als politische Waffe und setzt damit das Leben vieler Menschen aufs Spiel. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich bei Erdogan um einen Machthaber handelt, der alles dafür tun würde, um seine Macht zu halten und auszubauen. Ich erinnere daran, dass er die Justiz unter seine Kontrolle brachte und tausende Richter einsperren ließ, was mit dem Rechtsstaatlichkeitsgedanken unvereinbar ist. Er verfolgt die Kurden, was grundlegenden Menschen- und Minderheitenrechten widerspricht.

Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage: War es dann überhaupt sinnvoll mit Erdogan einen Deal einzugehen?

Ja, das schon. Denn nach dem Abschluss des Vertrages ist die Anzahl der ankommenden Flüchtlinge rapide gesunken. Das EU-Türkei-Abkommen hat effektiv dazu geführt, dass der Flüchtlingsstrom zum Teil unter Kontrolle gebracht werden konnte. Es war also sicherlich ein richtiger Weg. Davon waren nicht nur die EU, sondern auch führende Migrationsexperten aus verschiedenen Ländern überzeugt. Ich muss aber präzisieren: man kann nicht pauschal sagen, jetzt haben wir einen Vertrag mit der Türkei, und dann passt es schon! Das Flüchtlingsthema löst man nicht mit einem Vertrag. Das Flüchtlingsthema ist ein globales Thema, auf das globale Antworten gegeben werden müssen.

Ist Erdogan ein verlässlicher Partner für die Europäische Union?

Nein, Erdogan ist kein verlässlicher Partner. Seine autoritäre Politik ist ein Problem vor der Tür der Europäischen Union.

Abgesehen davon, gibt es auch Stimmen, die sagen, die EU hätte die Türkei, was die Flüchtlingsthematik anbelangt, mehr unterstützen müssen. Sehen Sie das auch so?

Das sehe ich nicht so. Mit der Türkei ist es sehr schwer zusammenzuarbeiten, weil die Türkei jegliche Mitsprache sofort als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten qualifiziert und außenpolitisch oft sogar den Eindruck erweckt, sie würde am liebsten das alte Osmanische Recht wieder zu neuem Leben erwecken. Ich darf es mal überspitzt auf den Punkt bringen: Erdogan hat sich in Libyen und in Syrien verzockt und jetzt setzt er – wie ein leidenschaftlicher Spieler – alles auf eine Karte: Er will die EU zwingen, ihm zu helfen, seine Fehler auszubügeln. Er könnte sich nochmals verzocken – wenn die EU, was zu hoffen ist, sich diesmal nicht erpressen lässt.

Das Flüchtlingsabkommen, wie Sie selbst sagen, ist also gescheitert. Was hat das nun für Auswirkungen?

Die Situation ist wirklich sehr schlimm. Menschen werden mit Gummigeschossen und Tränengas beschossen, tausende Frauen und Kinder müssen in der Kälte ausharren. Mir kommt vor, dass die Europäische Union hier eine schlechte Figur macht. Die EU wird sich wehren und sagen, dass das Flüchtlingsthema genauso wie das Corona-Virus-Thema Zuständigkeit der Nationalstaaten ist, aber die Nationalstaaten scheitern an diesen globalen Themen und sie werden weiter scheitern. Hier muss die EU Verantwortung übernehmen und vorausgehen. Wir haben eine eigene Agentur für die Küsten- und Grenzwache „Frontex“, die ja geschaffen wurde, um die Außengrenzen zu sichern. Jetzt wird angekündigt, dass 1.500 Grenzschützer an die Grenzen Griechenlands gesendet werden und auch das griechische Militär soll eingesetzt werden. Ich glaube aber nicht, dass man so wahre Flüchtlingspolitik betreiben kann. Es kann ja nicht sein, dass man europäische Werte, ich rede hier von Menschenrechten und Rechte von geflüchteten Menschen, außer Kraft setzt. Das sind Werte, die wir in Europa eigentlich verteidigen müssten.

Könnte es damit zu einer Situation wie 2015 kommen, als innerhalb kürzester Zeit Hunderttausende Flüchtlinge in die EU drängten?

Ich glaube, dass die Europäische Union mithilfe von Grenzschützern die Grenzen komplett schließen wird. Man wird diese Flüchtlinge nach Westeuropa nicht gelangen lassen. Die EU wird jetzt einfach sagen, dass sie die Grenzen schließen muss, zumal die Türkei das Flüchtlingsabkommen gebrochen hat. Die EU besteht sozusagen auf die Einhaltung des Vertrages. Deshalb gehe ich nicht davon aus, dass es zu einer Situation wie 2015 kommen wird. In meinen Augen droht keine mit 2015 vergleichbare Flüchtlingskrise.

Warum nimmt aber die EU das alles in Kauf? Es ist nicht das erste Mal, das Erdogan der EU droht, die Grenzen zu öffnen. Warum lässt sie sich immer wieder erpressen?

Die Europäische Union hat im Moment nicht die außenpolitischen Zuständigkeiten eines Staates, dadurch fehlt ihr vielfach die Kraft aber auch die Rechtsgrundlage zu einem entschlosseneren Vorgehen. Ich denke, dass man der EU mehr außenpolitische Zuständigkeiten geben sollte. Damit sind viele Nationalstaaten nicht einverstanden, weil sie Teile ihrer Souveränität abgeben würden. Global gesehen kann die EU aber nur am besten unsere Interessen wahren.

Wie wird es nun weitergehen?

Diesen Menschen muss zunächst sofort humanitär geholfen werden. Aber unabhängig davon, muss die Situation zwischen der EU und Ankara gelöst werden. Das ist jetzt die große Stunde der Diplomanten und Staatsfrauen und Männer.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Erdogan einlenken und die Grenzen wieder schließen wird?

Erdogan wird Folgendes tun: Er wird schauen, wie er einen politischen Erfolg einfahren kann. Erdogan braucht gegenüber seinem eigenen Land ein Erfolgserlebnis, sonst hat er gleichzeitig ein innenpolitisches und ein außenpolitisches Problem. Mit dieser Strategie wird er auch in die Verhandlungen mit der EU hineingehen. Angela Merkel hat auch gesagt, dass sie weiter schauen wird, eine Lösung zu finden. Und das muss auch passieren, es ist höchste Zeit. Wir brauchen endlich ein funktionierendes Asylsystem: schnelle Entscheidungen sowie Aufnahme und Schutz für jene Menschen, die aus Kriegsgebieten kommen.

Interview: Eva Maria Gapp

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