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„Lechner braucht eine Lobby“

Der Unfalllenker von Luttach, Stefan Lechner, hat sieben Leben ausgelöscht und sein eigenes Leben ruiniert. Der Psychiater Roger Pycha zeigt Wege auf, wie der Mann aus Kiens psychisch überleben kann.

TAGESZEITUNG Online: Herr Primar, wie kann ein Mensch, der so eine Tragödie wie jene in Luttach verursacht, weiterleben?

Roger Pycha: Das ist eine schwierige und berechtigte Frage. Grundsätzlich wissen wir, dass die Gesetze des Lebens mächtig sind. Ich als Individuum will um jeden Preis überleben, darum habe ich für das, was geschehen ist, verschiedene Erklärungsmodelle …

Nämlich?

Ich rede mir beispielsweise ein: Das war ein fürchterliches Unglück, ich bin minimal schuldig. Das kann bei kleineren oder größeren Vergehen weitgehend funktionieren. Man verdrängt und geht zur Tagesordnung über. Aber im Fall der Tragödie von Luttach funktioniert dieser einfache Mechanismus nicht …

Weil?

Weil die Gesellschaft, das viele Leid der Leute, die Reaktionen der Umwelt aber auch seine eigenen Erinnerungen den Unfalllenker immer und ständig darauf hinweisen, dass das Ganze leider nicht ungeschehen gemacht werden kann. Die zweite Möglichkeit wäre: Der Unfalllenker geht her und sagt, es ist furchtbar tragisch, ich gestehe meine Verantwortung ein, aber es war eine Verkettung ungünstiger Umstände, ich kann nicht so viel dafür, wie anderen meinen. Das würde ich gelten lassen.

Das würden Sie gelten lassen?

Ja, weil kein Mensch will im Vollrausch andere Menschen töten. Die Verkettung der unglücklichen Umstände besteht darin, dass der Mann aus seinem Audi TT im, Vollrausch eine Waffe gemacht hat. Für die Gesellschaft, aber auch für die Beteiligten und deren Angehörigen schaut das Ganze wie ein terroristischer Akt aus, wobei die Terroristen, die mit Lkw absichtlich Leute töten wollten, nicht imstande waren, so viele Menschen zu töten und zu verletzen, wie er unabsichtlich. Das ist ein tragischer Aspekt.

Glauben Sie, dass er Unfalllenker mit dieser Erklärung des Geschehenen leben kann?

Ich weiß es nicht. Das Dritte, was er tun kann, wäre: Er erwacht und übernimmt die volle Verantwortung für sechs ausgelöschte Leben und viele Verletzte. Wenn er das tut, dann ist er – das muss man sagen – suizidgefährdet. Denn er wird sich fragen: Welches Recht geben mir die Anderen, die Familien der Opfer, weiterzuleben? Und dann ist da noch die Öffentlichkeit, die es im Nachhinein immer besser weiß und sagt: Er hätte nicht trinken dürfen …

Was ja stimmt …

Sicher. Ich denke, der junge Mann erlebt verschärft, was damals Hans Kammerlander nach seinem Unfall erlebt hat.

Wenn man sich in den sozialen Medien umsieht, hat man den Eindruck, dass in Südtirol – wenn es sich nicht um Ausländer handelt – Täter sehr schnell zu Opfern gemacht werden …

Er muss schon Täter bleiben, weil er wirklich schwerste Verantwortung und Schuld auf sich geladen hat. Die Verantwortung liegt in zwei Dingen: Im sich Berauschen und dann auch noch schnell zu fahren. Wir müssen in Südtirol endlich und noch mehr das Bewusstsein schulen, dass Autos gefährliche Waffen sind, wenn man sie gegen andere richtet, ob das nun andere Autofahrer, Radfahrer oder Fußgänger sind. Wir müssen viel disziplinierter fahren. Vielleicht bräuchte es auch bei uns niedrigere Tempolimits so wie wir sie aus den USA kennen. In den USA sind sowohl der Konsum von Alkohol in der Öffentlichkeit als auch das Zu-schnell-Fahren hochverpönt. Bei uns ist eher das Gegenteil der Fall, bei uns sind diese beiden Dinge eher der Ehrenkodex für Männlichkeit. Das muss sich ändern, wenn wir aus der Tragödie von Luttach als Gesellschaft etwas lernen wollen.

Das wird im Weinland Südtirol nicht leicht sein …

Es geht um den Umgang mit Alkohol. Alkohol ist eine Droge, die häufig euphorisiert, die Gefühle intensiver macht und die Kontrollverlust bewirkt. Alkohol hat eine ganz paradoxe Wirkung, weil beim betrunkenen Autofahrer der Eindruck entsteht, seine Kontrollfähigkeit wäre erhöht, dabei ist sein Verhalten deutlich reaktionsverzögert.

War es von uns Medien richtig, den Namen des Unfalllenkers zu nennen? In den sozialen Medien gab es zu dieser Frage einen regelrechten Shitstorm …

Ich glaube, dass man an der Namensnennung bei so einem bedeutsamen Ereignis nicht vorbeikommt. Man derschützt ihn nicht. Und es stellt sich die Frage: Braucht er diesen Schutz?

Braucht er ihn?

Er muss für die Tragödie, die er sicher nicht gewollt hat, einstehen. Er muss für sein restliches Leben für den Schaden einstehen. Er kann ihn nicht gutmachen, nicht sühnen. Ich habe, ehrlich gesagt, auch meine Bedenken, ob er das schafft. Es wird einen gewaltigen inneren Prozess brauchen, damit er weiterleben, damit er psychisch überleben kann.

Wie kann er diesen inneren Prozess gestalten?

Um psychisch überleben zu können, braucht es drei Dinge: Man muss die Situation überblicken können, man muss das eigene Leben beeinflussen können – und man muss es für sinnvoll halten. Diese drei Bedingungen sind derzeit nicht gegeben. Denn er kann den Schaden, den er gesetzt hat, nicht überblicken. Sechs Tote – es ist furchtbar, das was er verursacht hat. Er kann das Ganze nicht mehr leicht beeinflussen, auch wenn er Sühne tut und Schadenersatz leistet, aber dafür reichen seinen lebenslangen Zahlungen niemals aus. Am ehesten wäre das Dritte möglich, indem er eine Sinnfindung sucht, indem er zu der Erkenntnis gelangt: Mein Leben hat trotzdem oder gerade deswegen einen Sinn. Er könnte sich selbst und anderen beweisen, dass es auch in der paradoxesten Situation weitergehen kann und muss. Das könnte gelingen, ist aber sehr schwierig.

Schwierig, aber nicht unmöglich?

Er könnte sagen: Ich darf mein eigenes Leben nicht wegwerfen, weil ich andere Leben ausgelöscht habe. Ungewollt! Ich muss aus meinem Leben etwas machen, was hilfreich ist für andere, für die Gemeinschaft. Also könnte er Buße tun, um einen kleinen Funken Hoffnung für die Zukunft für sich selbst zu bekommen.

Screenshot: Bild.de

Wie werden die Angehörigen des Unfalllenkers mit der Tragödie umgehen?

Die Angehörigen können im Moment nicht viel mehr tun, als sich zugehörig zu zeigen. Der Mann braucht eine Lobby für sich, die sagt: Alle anderen verurteilen dich, aber wir halten zu dir, weil du ein von Tragik geschüttelter Mensch bist, der das nicht wollte. Die Tragödie ist durch Unachtsamkeit, durch unglückliche Verkettungen, durch Fehler, durch risikobereite Handlungen, die sich aufgeschaukelt haben, passiert, aber gewollt hast du es nicht. Denn hättest du das Unglück absehen können, hättest du es verhindert. Das ist wichtig, dass die Leute ihm das sagen.

Oft entsteht in diesen Situationen die Dynamik, dass diese Lobby – so wie man es in den sozialen Netzwerken bereits beobachten konnte – auf andere schießt, etwa auf die Medien, im Fehlglauben, den Mann dadurch schützen zu können …

Das sollte die Lobby nicht machen, sie sollte im Privaten wirken. Diese Leute sollen zu ihm halten, denn er hat ein Recht weiterzuleben. Ihn jetzt im Regen stehen zu lassen, wäre inhuman.

Interview: Artur Oberhofer

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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