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„Die Gewalt wirkt weiter“

Foto: Anna Verena Mueller

Monika Hauser, Gründerin von medica mondiale, besucht Toblach: Im Interview spricht sie über Gewalt gegen Frauen, auch in Südtirol, über die Optionszeit und über Kindererziehung.

Tageszeitung: Frau Hauser, Sie machen in Vorträgen und Diskussionen immer wieder aufmerksam auf das Schicksal traumatisierter Frauen in Kriegsgebieten. Aber wie interessiert sind die Menschen wirklich daran?

Monika Hauser: Jene Menschen, die zu den Vorträgen kommen, zeigen sich freilich sehr interessiert. Mir ist es seit 25 Jahren ein Anliegen das gesellschaftliche Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Gewalt, Diskriminierung und fehlende Geschlechtergerechtigkeit nicht nur ein Thema in Afghanistan oder im Kongo sind, sondern dass dies auch in unseren Gesellschaften vorkommt. Auch in Südtirol gibt es immer wieder viel Gewalt an Frauen und Mädchen: Sexualisierte Gewalt ist weit verbreitet, es gibt Frauenmorde, strukturelle Probleme, wodurch Frauen diskriminiert werden. In einer extremen Krisensituation eskaliert so etwas.

Inwiefern hat sich die Wahrnehmung zum Thema in den vergangenen 25 Jahren verändert?

Natürlich hat es eine Entwicklung gegeben: Wir haben Konventionen, wir haben eine bessere Gesetzeslage als vor 25 Jahren. Man darf nicht vergessen: In Deutschland ist Vergewaltigung in der Ehe erst seit Ende der 90ger Jahre ein Straftatbestand. Dies auch nur, weil Frauen aller Parteien sich damals zusammengeschlossen hatten, oft gegen erbitterten Widerstand ihrer männlichen Parteikollegen. Wir haben zwar eine verbesserte Gesetzeslage, keine Frage. Aber: Solange sich das gesellschaftliche Bewusstsein nicht verändert, was Gewalt gegen Frauen überhaupt bedeutet, nützen auch die besten Gesetze nichts.

Warum ist das so?

Der Fortschritt ist eine langsame Schnecke. Das gilt ganz besonders für Frauenrechte, weil Geschlechterstereotype immer noch weit verbreitet sind. So etwas beginnt bereits bei der Kindererziehung und in den Schulen. Man muss Jungs und Mädchen vermitteln, dass sie gleich viel wert sind. Die Mädchen sollen sich trauen zu machen, was ihnen wichtig ist. Die Jungs sollen mehr Respekt erlernen. Das lässt sich nicht nur per Gesetz regeln. Die Medien spielen auch eine besondere Rolle. Wenn ich die oft frauenverachtende Werbung sehe, dann frage ich mich schon, was das für Vorbilder für die jungen Menschen sein sollen. Dazu kommt auch, dass häufig die Erwachsenen keinen respektvollen Umgang miteinander vorleben.

Sie sprechen über Gewalt und Diskriminierung von Frauen in Europa. Aber medica mondiale kümmert sich doch vor allem um die Menschen in den großen Krisengebieten der Welt. Nicht?

Unsere Arbeit findet vor Ort statt, keine Frage. Aber ich habe etwas dagegen, dass man immer nur in die Gesellschaften ferner Länder schaut, anstatt sich darüber bewusst zu werden, was zu Hause passiert. Mir ist es wichtig, eine Brücke zu schlagen. Dazu kommt: Wir haben viele Geflüchtete in Europa, die auch auf der Flucht Gewalt erfahren, etwa in den Flüchtlingslagern in Europa. Dieses Thema können wir nicht wegschieben.

Wie verändert sich die Gesellschaft, sobald Menschen mit Gewalterfahrungen dazu stoßen?

Auch bei der Frage möchte ich zuerst antworten, dass es auch viele hiesige Überlebende von Gewalt gibt – durch unsere eigene Gesellschaft traumatisiert! Aber natürlich sind hierher geflüchtete Menschen, die immer wieder Gewalt erleben, schwer traumatisiert. Sie brauchen selbstverständlich fachliche Unterstützung. Sie brauchen aber auch Sicherheit und Stabilität, um wieder in das Leben zurückkehren zu können. Das hat wiederum viel mit unserer Politik zu tun: So genannte Ankerzentren in Bayern sind Orte für weitere Traumatisierung. Monate lang müssen die Familien dort ausharren, ohne zu wissen, was sie in Zukunft erwartet, die Kinder haben keinen Schulunterricht. Das ist unwürdig, weil wir wissen, was traumatisierte Leute tatsächlich brauchen. Wir sollten den Menschen Halt bieten, ihnen helfen wieder auf die Beine zu kommen, damit zumindest ein Teil von ihnen später in ihre Länder zurückkehren kann, um dort Aufbauarbeit zu leisten.

Wie Sie sagen: Gewalt gibt es überall. Aber, was macht das mit den Menschen?

Die Gewalterfahrung hat viele Auswirkungen. Das gilt für eine Südtirolerin genauso wie für eine Frau aus Afghanistan. Gewalt, die nicht verarbeitet wird, die keine solidarische gesellschaftliche Unterstützung bekommt, isoliert die Frauen immer mehr. Wenn diese Frauen Kinder haben, kann es zu transgenerationaler Traumatisierung kommen. Das sind Traumata, die unverarbeitet an die nächste Generation weitergegeben werden. So etwas gibt es auch in Deutschland genauso wie in Südtirol. Die Optionszeit ist letztendlich nie wirklich emotional aufgearbeitet worden, es gibt nach wie vor viele Auswirkungen. Fremdenhass ist zum Beispiel eine davon. Nur: Die heutigen Generationen können das nicht mehr in Verbindung setzen mit den damaligen Ereignissen. Die Gewalt wirkt weiter, wenn sie nicht verarbeitet wird.

Interview: Silke Hinterwaldner

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